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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0399
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Die Trugwahrnehmungen

die überhaupt nachzudenken dem Kranken ohne uns gar nicht eingefallen wäre. Wenn
z.B. ein Kranker stolz und beglückt erzählt: Gott erscheine ihm mit silbernem Barte als
alter Mann und spreche zu ihm in milden Worten, so ist es uns nicht wichtig, nun wei-
ter zu hören, auch den Engel Gabriel und ganze Engelscharen, die Himmelsleiter und
die auf und ab steigenden Gestalten habe er gesehen. Vielmehr ist es wichtig zu wissen,
was manchmal schon durch eine Frage, manchmal erst nach langem Bemühen auf
Umwegen zu erfahren ist, daß er alles dies nicht gleichzeitig mit äußeren Gegenständen,
sondern nur mit dem inneren Auge gesehen habe, daß die Stimme Gottes nicht laut wie
andere menschliche Stimmen, sondern nur ihm vernehmbar als innere lautlose und
doch von einer fremden Macht kommende, deutlich vernehmbare Stimme erklungen
sei. Solche Unterschiede pflegen dem Kranken gleichgültig zu sein. Uns bedeuten sie die
fundamentale Unterscheidung in Pseudohalluzinationen und echte Halluzinationen.
Dieser Fall zeigt uns, was allgemein gilt: die eigentlichen Beobachterin der Lehre von
den Halluzinationen sind die Kranken, nicht wir. Wir beobachten nur durch die Kran-
ken, indem wir anregen, richtig verstehen und unterscheiden. Unsere Beobachtung
ist daher von der Beobachtungsfähigkeit der Kranken, von ihrer Intelligenz, ihrer Bil-
dung, ihrer Lust, Auskunft zu geben, abhängig (über diese Frage und das »psychologi-
sche Urteil« der Kranken Jaspers S. 259 ff.).8°2
Ob überhaupt Sinnestäuschungen vorhanden sind bei Kranken, die keine Auskunft
geben, hat man aus vielen, aber durchaus unsicheren Merkmalen zu erschließen
gesucht, die immerhin als Wegweiser nützlich sind. Binswanger faßt die wichtigsten
zusammen:
Der bald starre, verzückte, bald unruhig und scheu hin und her irrende Blick des Visionärs,
der gespannte, unbewegliche, erwartungsvolle Gesichtsausdruck, die gezwungene Kopfhaltung
306 | des auf seine Stimmen horchenden Gehörshalluzinanten sind charakteristische Merkmale ...
Die Kranken stopfen sich die Ohren zu, verkriechen sich unter die Bettdecke, halten sich (bei
Geruchshalluzinationen) die Nase zu, verweigern (bei Geschmackshalluzinationen) die Nah-
rungsaufnahme oder spucken entrüstet das Essen wieder aus. (Lehrbuch S. n. Vgl. Schüle S.
134 ff., Neumann S. 115 ff.)
Eine eigentliche Untersuchung der Sinnestäuschungen kann nur stattfinden, wenn
der Kranke Auskunft gibt, uns versteht, nachdenkt, sich das, wonach gefragt wird, ver-
gegenwärtigt, zu kleinen Experimenten bereit ist.
Untersuchung der Gesichtstäuschungen: Was wird gesehen? Wann? Bei offenen oder geschlos-
senen Augen, oder in beiden Fällen? Wenn nur bei geschlossenen Augen gesehen wird, sind die
Dinge dann im Augenschwarz oder verschwinden sie, wenn das Augenschwarz absichtlich ange-
sehen wird? Es ist auf diese Weise zu erkunden, ob die Dinge im Augenschwarz oder im inneren
Vorstellungsraum erscheinen. Wenn letzteres stattfindet, ist die Abhängigkeit vom Willen, die
Art des Auftretens, des Schwindens, des sich Veränderns zu beschreiben. Wenn Täuschungen bei
offenen Augen eintreten, ist wiederum zu untersuchen, ob gleichzeitig die Gegenstände der
 
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