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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0400
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Die Trugwahrnehmungen

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Umgebung und die Täuschungen gesehen werden, an welcher Stelle des Raumes die Täuschun-
gen Platz hatten, ob sie selbständige Bewegungen besaßen, wie sie sich zu den realen Gegenstän-
den verhielten. Ihre Farbigkeit, Durchsichtigkeit, Körperlichkeit ist festzustellen, die Dauer ihres
Bestehens, die Art, wie sie verschwinden. Bei Deliranten (Liepmann), zuweilen auch bei ande-
ren Kranken (Alzheimer), kann man bei Druck auf die Augäpfel phantastische Erscheinungen
im Augenschwarz entstehen und beschreiben lassen. Reichardt gibt an: Man gibt dem Kran-
ken (im hellsten Tages- bzw. Sonnenlicht) ein leeres, großes Blatt Papier in die Hand und fordert
ihn ohne weitere Suggestivfragen auf, zu erzählen, was er sieht. - Wer den seltenen Fall zur Unter-
suchung bekommt, daß ein besonnener Kranker Gesichtstäuschungen im äußeren Raum hat,
würde Gelegenheit haben, die merkwürdigen Angaben über das Verhalten der Gesichtstäuschun-
gen bei Verschiebung eines Bulbus, beim Vorsetzen von Prismen und vergrößernden Gläsern,
bei Verdeckung des Ortes, an dem die halluzinierte Erscheinung gesehen wird, beim Wegwen-
den und Zurückleiten des Blicks usw. nachzuprüfen und zu ergänzen. Die Art der leibhaftigen
Gesichtstäuschungen ist unter Vergleich mit normalen Wahrnehmungen genau zu beschreiben.
Gehörstäuschungen: Was wird gehört? Elementare Täuschungen? Musik? Geräusche, Klänge,
Melodien? Stimmen, Worte oder Sätze? Sprechen mehrere? Frauen, Männer, Kinder oder uncha-
rakteristische Stimmen? Wie laut sind die Stimmen? Nachmachen lassen oder vormachen und
fragen, ob lauter oder leiser? Fragen nach den Merkmalen der Pseudohalluzinationen. Woher
kommen die Stimmen? Im äußeren Raum lokalisiert? Nah oder fern? Näher oder ferner kom-
mend und in Bewegung? Sprechen Personen, die zugleich gesehen werden? Beziehung zu realen
Geräuschen, Vögeln usw.?
Das Gedankenlautwerden kann besonderer Untersuchung unterzogen werden. Man sucht
zu erkunden, ob Äußerungen wie »es werden mir meine Gedanken gesagt, abgezogen« auf
wahnhaften Deutungen oder auf halluzinatorischen Vorgängen beruht. Im letzteren Falle, ob
die Gedanken einfach ausgesprochen oder ob zu den Gedanken in Beziehung stehende Bemer-
kungen gemacht werden, oder ob beides geschieht. Liegt echtes Gedankenlautwerden vor: Lesen
lassen (leise), schreiben lassen, zeichnen lassen. Darauf fragen: haben Sie etwas gemerkt? Wenn
ja: wurde vor- oder nachgesprochen? War vielleicht beim Lesen etwas zu hören, beim Zeichnen
nichts? Versuch mit lautem Lesen, Verschwinden der Stimmen? Rechnen lassen, die Stimme
hilft manchmal oder spricht nur nach.
Wenn Kranke von langen Gesprächen und Reden erzählen, die sie gehört haben, so können
sie meist keine bestimmten Sätze mehr angeben, sondern erzählen in unbestimmter, referieren-
der Weise. Dies wurde vielfach als Zeichen angesehen, daß es sich nicht um wirkliche Halluzi-
nationen gehandelt habe. Doch macht Kandinsky mit Recht darauf aufmerksam (S. 30), daß
man nach längeren Gesprächen nie mehr einzelne Sätze angeben könne. Das ist eher möglich,
wenn ein erstaunlicher Satz oder ein Wort halluziniert wurde.
Wenn Sinnestäuschungen überhaupt vorliegen, wird man alle Sinnesgebiete durch-
prüfen. Wenn auf mehreren halluziniert wird, ist festzustellen, ob ein | Zusammen-
hang zwischen verschiedenen Sinnesgebieten besteht. Man erkundet die Dauer, die
Häufigkeit, die Anlässe des Auftretens der Sinnestäuschungen. Meist wird es sich nicht
um isolierte Sinnestäuschungen, sondern um komplizierte Phänomene, anfallsartige
Zustände, Erlebnisse, Bewußtseinsveränderungen handeln, deren deutliche Beschrei-
bung natürlich viel mehr als bloße Beachtung der Sinnestäuschungen erfordert.

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