Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie
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aufzuwerfen. Diese Frage ist, wenn man einmal diese Erlebnisse analog den Wahrneh-
mungserlebnissen als etwas Letztes anerkannt hat, dahin zu beantworten: die techni-
schen Hilfsmittel zur Aufbewahrung einmal gehabter Anschauungen zum späteren
Vergleich und manches andere sind auf dem Gebiet der Einfühlungserlebnisse für
immer so unvollkommen, daß hier mit viel mehr Schwierigkeiten zu kämpfen ist als
auf dem Gebiet sinnlicher Wahrnehmung; Sicherheit wird hier aber in prinzipiell glei-
cher Weise durch Vergleich, Wiederholung, Nachprüfung der Einfühlungserlebnisse,
der Vergegenwärtigungen erreicht, wie durch Vergleich, Wiederholung und Nachprü-
fung der in sinnlicher Wahrnehmung gefundenen naturwissenschaftlichen Ergeb-
nisse. Unsicherheit herrscht auf beiden Gebieten. Daß sie auf der psychologischen
Seite größer ist, ist nicht zu bestreiten. Aber das ist nur ein gradweiser Unterschied.
Ob wir unsere eigenen seelischen Erlebnisse der Vergangenheit oder die anderer
Menschen uns vergegenwärtigen, ist ziemlich gleich. Ein bedeutender Unterschied
liegt anscheinend nur vor zwischen den bei planmäßiger experimenteller Selbstbeobach-
tung an perseverierenden Erlebnissen gewonnenen | Beobachtungen'810 und den bloßen
verstehenden Vergegenwärtigungen. Für unsere Untersuchungen psychopathologi-
scher Phänomene kommt wohl fast nur das letztere in Betracht, da Kranke zu Selbst-
beobachtungen im ersteren Sinne wohl nur selten und unter besonders günstigen
Umständen bei einfachen Störungen (Trugwahrnehmungen bei besonnenem Bewußt-
sein, Agnosien usw.) gebracht werden können. Diese verstehende Vergegenwärtigung
der Phänomene der seelisch Kranken hat aber durch die Begriffe, die durch phänome-
nologische Untersuchung der ersten Art gewonnen sind, immer bedeutende Förde-
rung zu erwarten.
Die Mittel der phänomenologischen Analyse und Festlegung dessen, was Kranke
wirklich erleben, sind dreierlei Art: erstens die Versenkung in Gebaren, Benehmen,
Ausdrucksbewegungen; zweitens die Exploration mit ihrer Befragung und der von uns
geleiteten Auskunft der Kranken über sich selbst; drittens die schriftlich niedergeleg-
ten Selbstschilderungen, die selten gut, dann aber immer sehr wertvoll und eventuell
benutzbar sind auch ohne persönliche Kenntnis der Verfasser. In allen diesen Fällen
treiben wir Phänomenologie, insofern wir auf das Seelische dabei eingestellt sind, und
nicht auf die objektiven Erscheinungen, die hier vielmehr nur Durchgangspunkt, nur
Mittel, nicht selbst Untersuchungsgegenstand sind. Von ganz besonderem Werte sind
aber die guten Selbstschilderungen".811
i Hier sind die Arbeiten der Külpeschen Schule für die Phänomenologie außerordentlich fruchtbar
gewesen. Alle diese höchst verwickelten Dinge sollen hier, wo es nur auf die Feststellung der phä-
nomenologischen Forschungsrichtung überhaupt abgesehen ist, nicht detailliert dargelegt wer-
den. Vgl. übrigens zur Selbstbeobachtung Elias Müller, Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und
des Vorstellungsverlaufs, Leipzig 1911, S. 161-176.
ü Wir können es uns nicht versagen, es ganz besonders hervorzuheben, daß es für die Phänomeno-
logie von größtem Werte ist, wenn solche veröffentlicht werden. Da besonders gebildete und in-
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aufzuwerfen. Diese Frage ist, wenn man einmal diese Erlebnisse analog den Wahrneh-
mungserlebnissen als etwas Letztes anerkannt hat, dahin zu beantworten: die techni-
schen Hilfsmittel zur Aufbewahrung einmal gehabter Anschauungen zum späteren
Vergleich und manches andere sind auf dem Gebiet der Einfühlungserlebnisse für
immer so unvollkommen, daß hier mit viel mehr Schwierigkeiten zu kämpfen ist als
auf dem Gebiet sinnlicher Wahrnehmung; Sicherheit wird hier aber in prinzipiell glei-
cher Weise durch Vergleich, Wiederholung, Nachprüfung der Einfühlungserlebnisse,
der Vergegenwärtigungen erreicht, wie durch Vergleich, Wiederholung und Nachprü-
fung der in sinnlicher Wahrnehmung gefundenen naturwissenschaftlichen Ergeb-
nisse. Unsicherheit herrscht auf beiden Gebieten. Daß sie auf der psychologischen
Seite größer ist, ist nicht zu bestreiten. Aber das ist nur ein gradweiser Unterschied.
Ob wir unsere eigenen seelischen Erlebnisse der Vergangenheit oder die anderer
Menschen uns vergegenwärtigen, ist ziemlich gleich. Ein bedeutender Unterschied
liegt anscheinend nur vor zwischen den bei planmäßiger experimenteller Selbstbeobach-
tung an perseverierenden Erlebnissen gewonnenen | Beobachtungen'810 und den bloßen
verstehenden Vergegenwärtigungen. Für unsere Untersuchungen psychopathologi-
scher Phänomene kommt wohl fast nur das letztere in Betracht, da Kranke zu Selbst-
beobachtungen im ersteren Sinne wohl nur selten und unter besonders günstigen
Umständen bei einfachen Störungen (Trugwahrnehmungen bei besonnenem Bewußt-
sein, Agnosien usw.) gebracht werden können. Diese verstehende Vergegenwärtigung
der Phänomene der seelisch Kranken hat aber durch die Begriffe, die durch phänome-
nologische Untersuchung der ersten Art gewonnen sind, immer bedeutende Förde-
rung zu erwarten.
Die Mittel der phänomenologischen Analyse und Festlegung dessen, was Kranke
wirklich erleben, sind dreierlei Art: erstens die Versenkung in Gebaren, Benehmen,
Ausdrucksbewegungen; zweitens die Exploration mit ihrer Befragung und der von uns
geleiteten Auskunft der Kranken über sich selbst; drittens die schriftlich niedergeleg-
ten Selbstschilderungen, die selten gut, dann aber immer sehr wertvoll und eventuell
benutzbar sind auch ohne persönliche Kenntnis der Verfasser. In allen diesen Fällen
treiben wir Phänomenologie, insofern wir auf das Seelische dabei eingestellt sind, und
nicht auf die objektiven Erscheinungen, die hier vielmehr nur Durchgangspunkt, nur
Mittel, nicht selbst Untersuchungsgegenstand sind. Von ganz besonderem Werte sind
aber die guten Selbstschilderungen".811
i Hier sind die Arbeiten der Külpeschen Schule für die Phänomenologie außerordentlich fruchtbar
gewesen. Alle diese höchst verwickelten Dinge sollen hier, wo es nur auf die Feststellung der phä-
nomenologischen Forschungsrichtung überhaupt abgesehen ist, nicht detailliert dargelegt wer-
den. Vgl. übrigens zur Selbstbeobachtung Elias Müller, Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und
des Vorstellungsverlaufs, Leipzig 1911, S. 161-176.
ü Wir können es uns nicht versagen, es ganz besonders hervorzuheben, daß es für die Phänomeno-
logie von größtem Werte ist, wenn solche veröffentlicht werden. Da besonders gebildete und in-
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