Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0427
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
384

Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

330 anstreben wie wir, vorläufig die methodologischen Voraussetzungen | bewußt zu ma-
chen, nach denen wir arbeiten. In diesem Sinne bitten wir die apodiktische Form zu
verstehen, ohne die wir die hier gebotene Kürze nicht erreichen können.
1. Äußerer und innerer Sinn. Wir vergleichen - es ist aber nur ein Vergleich - das Gege-
bensein der mit unseren Sinnesorganen wahrgenommenen, äußeren Welt mit dem
Gegebensein der nicht sinnlich wahrgenommenen inneren Welt. Wir können Pflan-
zen, Tiere und alle anderen Gegenstände einzeln konkret wahrnehmen, und beschrei-
ben, wir können ferner Zusammenhänge in die sinnlichen Fakta bringen durch Erklä-
rungen, durch kausales Denken. Ähnlich können wir seelische Zustände, seelische
Gegebenheiten, Erlebnisse, Bewußtseinsweisen als solche (z.B. Vorstellungen, Gedan-
ken, Gefühle, Pseudohalluzinationen, wahnhafte Ideen, Triebregungen usw.) uns
anschaulich vergegenwärtigen und beschreiben. Wir können zweitens seelische
Zusammenhänge verstehen; verstehen, wie Seelisches aus Seelischem hervorgeht, wie
Handlungen aus Motiven entspringen, wie Stimmungen und Affekte aus Situationen
und Erlebnissen hervorgehen. Der sinnlichen Wahrnehmung steht die anschauliche Ver-
gegenwärtigung von Seelischem, der kausalen Erklärung das psychologische Verstehen gegen-
über. Da beide Weisen, Seelisches uns nahe zu bringen, »verstehen« genannt werden,
unterscheiden wir das Verstehen der Zustände als statisches Verstehen von dem Verste-
hen der Zusammenhänge als genetisches Verstehen. Die seelischen Zustände zu verge-
genwärtigen, abzugrenzen, zu beschreiben und zu ordnen ist die Aufgabe der Phäno-
menologie^821 seelische Zusammenhänge überzeugend zu begreifen, ist die gänzlich
andere der verstehenden Psychologie.
2. Das genetische Verstehen. Das Verstehen, wie Seelisches aus Seelischem hervor-
geht, ist mannigfacher Art. Die erste wichtige Trennung machte Simmel, der das Ver-
stehen des Gesprochenen vom Verstehen des Sprechers unterschied.822 Wenn die Inhalte
von Gedanken nach den Regeln der Logik einsichtig auseinander hervorgehen, so ver-
stehen wir diese Zusammenhänge rational. Wenn wir die Gedankeninhalte aber ver-
stehen als entsprungen aus den Stimmungen, Wünschen und Befürchtungen des Den-
kenden, so verstehen wir die Zusammenhänge erst eigentlich psychologisch oder
einfühlend. Führt das rationale Verstehen immer nur zur Feststellung, daß ein rationaler,
ganz ohne alle Psychologie verständlicher Komplex Inhalt einer Seele war, führt uns
das einfühlende Verstehen in seelische Zusammenhänge selbst hinein. Ist das rationale
Verstehen nur ein Hilfsmittel der Psychologie, so das einfühlende Verstehen Psycholo-
gie selbst.823
3. Verstehende Psychologie824 und Leistungspsychologie.825 Die verstehende Psycholo-
gie hat durchaus andere Aufgaben, als die aus der Physiologie entwickelte Leistungs-

Die Phänomenologie wurde von Husserl (Logische Untersuchungen, zweiter Band) entwickelt.
Für unsere Zwecke vgl. meinen Aufsatz über die phänomenolog. Forschungsrichtung in der Psy-
chopathologie, s. S. 367.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften