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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0429
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

nicht durch Erfahrung, die sich wiederholt, induktiv bewiesen. Sie hat ihre Überzeu-
gungskraft in sich selbst. Die Anerkennung dieser Evidenz ist Voraussetzung der verste-
henden Psychologie, so wie die Anerkennung der Wahrnehmungsrealität und Kausa-
lität Voraussetzung der Naturwissenschaft ist. Die Frage nach der psychologischen
Genese dieser Evidenz steht außerhalb der Methodologie, ebenso wie die Genese der
Wahrnehmung oder der Evidenz in der Überzeugung von einem Kausalzusammen-
hang außerhalb der Untersuchung über die Voraussetzungen der Naturwissenschaft
liegt. Die Frage der Genese des evidenten Verstehens ist in der Psychologie der Einfüh-
lung in Angriff genommen. Diese interessiert uns im methodologischen Zusammen-
332 hang also nicht. Wir | möchten jedoch bemerken, daß die Meinung, evidentes Verste-
hen lasse sich auf wiederholte Erfahrung gründen und sei nicht etwas Letztes, ebenso
falsch und ebenso zu bekämpfen ist, wie die Meinung, die Evidenz des Kausalprinzips
lasse sich durch Erfahrung begründen. Diese Meinung ist selbst dann falsch, wenn die
psychologische Genese der Evidenz auf wiederholte Erfahrung hinwiese.
5. Evidenz des Verstehens und Wirklichkeit, Verstehen und Deuten. Wenn Nietzsche
jenen überzeugend verständlichen Zusammenhang zwischen Bewußtsein der Schwä-
che und Moral auf den wirklichen einzelnen Vorgang der Entstehung des Christen-
tums überträgt,828 so kann diese Übertragung auf den Einzelfall falsch sein, trotz der
Richtigkeit des generellen (idealtypischen)829 Verstehens jenes Zusammenhangs. Das
Urteil über die Wirklichkeit eines verständlichen Zusammenhangs im Einzelfall beruht
nicht allein auf der Evidenz desselben, sondern vor allem auf dem objektiven Material
sinnlicher, greifbarer Anhaltspunkte (sprachliche Inhalte, geistige Schöpfungen aller Art,
Handlungen, Lebensführung, Ausdrucksbewegungen), die einzeln verstanden wer-
den, aber immer in gewissem Maße unvollständig bleiben. Alles Verstehen einzelner
wirklicher Vorgänge bleibt daher mehr oder weniger ein Deuten, das nur in seltenen Fäl-
len relativ hohe Grade der Vollständigkeit erreichen kann. Die Verhältnisse werden
am deutlichsten durch einen Vergleich des Verhaltens der Kausalregeln und der evident
verständlichen Zusammenhänge zur Wirklichkeit. Kausalregeln sind eben Regeln, sind
induktiv gewonnen, gipfeln in Theorien, die etwas der unmittelbar gegebenen Wirklich-
keit zugrunde Liegendes denken. Unter sie wird ein Fall subsumiert. Genetisch ver-
ständliche Zusammenhänge sind idealtypischei83° Zusammenhänge, sind in sich evident
(nicht induktiv gewonnen), führen nicht zu Theorien, sondern sind ein Maßstab, an
dem einzelne wirkliche Vorgänge gemessen und als mehr oder weniger verständlich
erkannt werden. Fälschlicherweise treten verständliche Zusammenhänge als Regeln
auf, indem die Häufigkeit des Vorkommens eines verständlichen Zusammenhangs kon-
statiert wird. Seine Evidenz wird dadurch jedoch in keiner Weise vermehrt; nicht er
selbst, sondern seine Häufigkeit ist induktiv gefunden. Zum Beispiel ist die Häufigkeit

Über den Begriff des Idealtypus vgl. Max Weber. Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und
sozialpolitischer Erkenntnis, Archiv f. Soziaiw. Bd. 19,1904.
 
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