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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0432
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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8. Verstehen und Unbewußtes. Es liegt im Wesen alles kausalen Untersuchens, daß es
in außerbewußte Grundlagen des Seelischen dringt. Es scheint zunächst, daß alle Phä-
nomenologie und alle verstehende Psychologie im Bewußtsein bleibt. Dieser Gegensatz
bleibt auch tatsächlich bestehen. Für Phänomenologie und verstehende Psychologie
ist es aber nie endgültig klar, wo die Grenzen des Bewußtseins liegen. Beide gewinnen
immer weiter vordringend an Boden. Die Phänomenologie beschreibt vorher gänzlich
unbemerkte Weisen seelischen Daseins und die verstehende Psychologie begreift bis
dahin unbemerkte seelische Zusammenhänge, so wenn sie gewisse moralische Anschau-
ungen als Reaktionsbildungen auf das Bewußtsein von Schwäche, Ohnmacht und
Armseligkeit begreift. So erlebt es jeder Psychologe bei sich selbst, daß sich sein seeli-
sches Leben zunehmend erhellt, daß Unbemerktes ihm bewußt wird,831 und daß er nie
sicher weiß, ob er an der letzten Grenze angelangt ist.
Es ist durchaus falsch, wenn dies Unbewußte, das durch Phänomenologie und ver-
stehende Psychologie aus Unbemerktem zu Gewußtem gemacht wird mit dem echten
Unbewußten, dem prinzipiell Außerbewußten, nie Bemerkbaren zusammengeworfen
wird. Das Unbewußte als Unbemerktes ist tatsächlich erlebt. Das Unbewußte als Außer-
bewußtes ist nicht tatsächlich erlebt. | Wir tun gut, das Unbewußte in ersterem Sinne 335
auch gewöhnlich unbemerkt, das Unbewußte im zweiten Sinne außerbewußt zu nen-
nen'.832
Von jeher war es die Aufgabe aller Psychologie, Unbemerktes ins Bewußtsein zu erhe-
ben. Die Evidenz solcher Einsichten erhielt sich immer dadurch, daß jeder andere das-
selbe als wirklich erlebt unter günstigen Umständen ebenfalls bemerken konnte. Nun
gibt es eine Reihe von Tatsachen, die wir nicht aus nachträglich zu bemerkenden wirk-
lich erlebten Vorgängen verstehen können, die wir aber doch zu verstehen meinen. Zum
Beispiel ist von Charcot833 und Möbius das Zusammentreffen der Ausbreitung hyste-
rischer Sensibilitäts- und Motilitätsstörungen mit den groben physiologisch-anatomi-
schen Vorstellungen des befallenen Kranken betont und daraus verstanden worden.
Man konnte aber nicht als Ausgangspunkt der Störung eine solche Vorstellung wirklich
nachweisen - abgesehen vom Fall der Suggestion424 -, sondern verstand die Störung, als
ob sie durch einen bewußten Vorgang bedingt wäre. Ob es sich in diesen Fällen nun
wirklich um diese Genese handelt, wenngleich die Aufklärung unbemerkter, aber wirk-
licher seelischer Vorgänge ausbleibt, oder ob es sich nur um eine treffende Charakteri-
stik bestimmter Symptome durch eine Fiktion handelt, das steht dahin. Freud,834 der
solche »als ob verstandene« Phänomene in großer Menge beschrieben hat, vergleicht
seine Tätigkeit mit der eines Archäologen, der aus einer Reihe von Bruchstücken aus
vergangenen Zeiten menschliche Geistestätigkeit deutet. Der große Unterschied ist nur
der, daß der Archäologe deutet, was einmal wirklich da war, während bei dem »als ob
Verstehen« das wirkliche Dasein des Verstandenen gänzlich dahingestellt bleibt.

Vgl. Hellpach, Unbewußtes oder Wechselwirkung, in der Zeitschr. f. Psychologie.
 
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