Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0433
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
390

Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

Der verstehenden Psychologie stehen also große Ausdehnungsmöglichkeiten
dadurch offen, daß sie Unbemerktes zum Bewußtsein erhebt. Ob sie dagegen durch ein
»als ob Verstehen« auch in Außerbewußtes dringen kann, muß immer zweifelhaft blei-
ben. Ob die Fiktion des »als ob Verstehens« sich zur Charakterisierung gewisser Phäno-
mene als brauchbar erweist, ist eine Frage, die nicht generell, sondern nur für den Ein-
zelfall entschieden werden kann.
9. Die Aufgaben der verstehenden Psychologie. Die Formulierung der täglich gewohn-
ten verständlichen Zusammenhänge, die im gewöhnlichen Sprachgebrauch jedermann
bekannt sind, führt zu Trivialitäten. Die Aufgaben der verstehenden Psychologie sind
das Ausdehnen des Verstehens über dies Bekannte hinaus ins Unbemerkte, ferner eine
Ausdehnung auf ganz ungewöhnliche Zusammenhänge (wie z.B. sexuell perverse Triebe
samt ihren Zusammenhängen mit anderen Triebregungen), schließlich das Heraus-
schälen der verständlichen Zusammenhänge aus psychotischen Zuständen, die zunächst
nur verworren zu sein scheinen. Der letzteren Aufgabe will das Material dieser Arbeit
dienen.
10. Verstehen und Werten. Es besteht das Faktum, daß wir alle genetisch verständli-
chen Zusammenhänge an sich positiv oder negativ werten, während wir alles Unver-
ständliche, wenn überhaupt, nur als Mittel zu etwas anderem werten. So werten wir
das Hervorgehen von moralischen Forderungen aus dem Ressentiment an sich abschät-
336 zig, so werten wir Gedächtnis nur als Werkzeug. | In der Wissenschaft der Psychologie
haben wir uns nun aber von allen solchen Wertungen aufs strengste fern zu halten. Wir
haben nur die verständlichen Zusammenhänge als solche zu erfassen und zu erken-
nen. Es besteht aber naturgemäß manchmal der Schein, als ob wir werten, indem wir
in einem konkreten Fall einen verständlichen Zusammenhang erkennen. Dieser
Schein entsteht, weil der verständliche Zusammenhang an sich von allen Menschen
sofort negativ oder positiv gewertet wird. Diesem Schein können wir uns auf keine Weise
entziehen. Übrigens beruhen richtige Wertungen auf richtigem Verstehen und da rich-
tiges Verstehen selten und so schwierig ist - es kann eigentlich nur bei besonderer Ver-
anlagung und bewußter erkenntnismäßiger Entwicklung eine gewisse Gewähr für
Treffsicherheit geben -, ist alles Werten anderer Menschen meist falsch und vom Zufall
und außererkenntnismäßigen Quellen abhängig. - Da jeder Mensch gern günstig
gewertet werden will, fühlt er sich meist richtig verstanden, wenn eine günstige Wer-
tung das Resultat ist. Daher ist im Sprachgebrauch des täglichen Lebens das Wort »Ver-
stehen« häufig für »günstig Werten« identisch gebraucht, und es entsteht das Faktum,
daß negativ gewertete Menschen und zumal in Situationen, wo ihr negativer Wert
offen zutage tritt, ihr Verständnis so ganz besonders schwierig und sich immer unver-
standen finden.
11. Die bisherigen Leistungen verstehender Psychologie. Bei jeder Analyse einer einzel-
nen Persönlichkeit, einer bestimmten Handlung kann etwas für die verstehende Psy-
chologie geleistet sein. Was nicht an solchen einzelnen Analysen, sondern an Aufdek-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften