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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0434
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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kung von generellen verständlichen Zusammenhängen geleistet ist, das ist niemals in
planmäßiger, systematischer Weise geschehen, sondern in Form von Essays, Reflektio-
nen, Aphorismen. Und hier ist der Erwerb für die verstehende Psychologie fast immer
durchsetzt mit Bewertungen und mit »Lebensweisheit«. Der einzigartige Wert dieser
Leistungen bleibt darum doch bestehen: Verständliche Zusammenhänge sind neu und
überzeugend immer nur durch die Intuition seltener Menschen entdeckt worden. Von
ihnen her fließt direkt oder indirekt durch Vermittlung von sekundären Quellen das
meiste unserer bewußten Kenntnis verständlichen menschlichen Seelenlebens. Nach
einigen Vorläufern im Altertum (Theophrasts Charaktere)835 sind besonders hervor-
ragend die Franzosen Montaigne, La Bruyere, Larochefoucauld, Vauvenargues,
Chamfort.836 Durchaus einzig und der größte von allen verstehenden Psychologen
ist Nietzsche837 (besonders Menschliches, Allzumenschliches; Morgenröte; Fröhliche
Wissenschaft; Zur Genealogie der Moral).838
Innerhalb der Psychiatrie hat sich verstehende Psychologie zu allen Zeiten betätigt.
Auf der einen Seite wurde sie viel zu weit ausgedehnt in den früheren Lehren von den
»psychischen Ursachen« der Geisteskrankheiten, auf der andern Seite - besonders in
neuerer Zeit bei der Abnahme des allgemeinen Niveaus geisteswissenschaftlicher Bil-
dung - wurde sie vergrößert, versimpelt und schließlich trat wohl der Wunsch auf, sie
gänzlich auszuschalten. Eine gewisse Höhe hat sie fast immer in Frankreich besessen.
Janet839 ist in unseren Tagen ihr vorzüglichster Forscher. In Deutschland hat die verste-
hende Psychologie in der Psychiatrie einen neuen Aufschwung genommen mit der
Lehre von den reaktiven Psychosen840 (Bonhoeffer, Wilmanns, Birnbaum u.a.), die
man besonders | in den abnormen Zuständen der Untersuchungs- und Strafhaft stu-
dierte. In der Lehre von den psychopathischen Persönlichkeiten841 (hysterischer Charakter
usw.) hat sie sich gleichfalls langsam entwickelt. Im ganzen ist sie aber arm geblieben.
Gleichzeitig mit diesen Bestrebungen in der Psychiatrie hat sich in einer gewissen
Reaktion zur früheren extrem somatischen Forschungsrichtung die Freudsche psycho-
logische Lehre entwickelt. Durch die Zahl der Mitarbeiter und die Menge der Publika-
tionen hat diese Schule einen beispiellosen Erfolg gehabt. Nicht nur wegen dieses
Erfolges, sondern vor allem wegen des außerordentlich interessanten Inhaltes dieser
Lehren, kann kein Psychopathologe umhin, Stellung zu nehmen. Leider ist es zur Zeit
so, daß die Mehrzahl entweder Freudianer oder Freudverächter sind. An Stelle einer kri-
tischen Durcharbeitung des Einzelnen und Annahme des Überzeugenden, geben sich
die einen den Lehren bedingungslos hin, lehnen die anderen alles in Bausch und
Bogen ab. Von hervorragenden Forschern, die sich wesentlichen Teilen der Freudschen
Lehre angeschlossen haben, ist Bleuler einer der Wenigen, die eine kritische Stellung
einnehmen1.842 Wir bemühen uns ebenfalls, an dem, was uns einleuchtet, positiv mit-

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Bleulers Schizophrenie (Wien 1911), auf die wir in dieser Arbeit noch eingehender zurückkom-
men, ist ein psychiatrisches Buch über Psychosen im engeren Sinne, das endlich wieder verste-
 
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