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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0435
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

zuarbeiten und zu einer kritischen Stellung zu kommen, die wir hier in Kürze auf
Grund der früheren methodologischen Bemerkungen formulieren:
a) Bei Freud handelt es sich tatsächlich um verstehende Psychologie, nicht um
kausale Erklärung, wie Freud meint. Kausale Erklärungen spielen hinein, indem die
physischen Grundlagen eines ganzen verständlichen Zusammenhanges als Ursache
z.B. einer Armlähmung, einer Bewußtseinstrübung usw., angesehen werden.
b) Freud lehrt in überzeugender Weise viele einzelne verständliche Zusammen-
hänge kennen. Wir verstehen, wie ins Unbemerkte verdrängte Komplexe sich in Sym-
bolen wieder zeigen. Wir verstehen die Reaktionsbildungen auf verdrängte Triebe, die
Unterscheidung der primären, echten von den sekundären, nur als Symbole oder Sub-
limierungen vorhandenen seelischen Vorgängen. Freud führt hier teilweise Lehren
Nietzsches detailliert aus. Er dringt weit vor ins unbemerkte Seelenleben, das durch
ihn zum Bewußtsein erhoben wird.
c) Auf der Verwechslung verständlicher Zusammenhänge mit kausalen Zusam-
menhängen beruht die Unrichtigkeit der Freudschen Forderung, daß alles im Seelen-
leben, daß jeder Vorgang verständlich (sinnvoll determiniert) sei. Nur die Forderung
unbegrenzter Kausalität, nicht die Forderung unbegrenzter Verständlichkeit besteht
zu Recht. Mit diesem Irrtum hängt ein anderer zusammen. Freud macht aus verständ-
lichen Zusammenhängen Theorien über die Ursachen des gesamten seelischen Ablaufs,
während Verstehen seinem Wesen nach nie zu Theorien führen kann, während kau-
sale Erklärungen immer zu Theorien führen müssen (die vermutende Deutung eines
einzelnen seelischen Vorgangs - nur solche einzelne Deutungen kann es geben - ist
natürlich keine Theorie).
338 | d) In zahlreichen Fällen handelt es sich bei Freud nicht um ein Verstehen und
ins Bewußtsein Heben unbemerkter Zusammenhänge, sondern um ein »als ob Verste-
hen« außerbewußter Zusammenhänge. Wenn man bedenkt, daß der Psychiater akuten
Psychosen gegenüber weiter nichts als Verworrenheit, Desorientierung, Leistungsde-
fekte oder sinnlose Wahnideen bei Orientierung konstatiert, so muß es als ein Fort-
schritt erscheinen, wenn es gelingt, durch »als ob verständliche« Zusammenhänge
in diesem Chaos vorläufig etwas zu charakterisieren und zu ordnen (zum Beispiel die
Wahninhalte der Dementia praecox). Ebenso war es früher ein Fortschritt, wenn die
Art der Verteilung hysterischer Sensibilitäts- und Motilitätsstörungen aus dem ver-
ständlichen Zusammenhang mit den groben anatomischen Vorstellungen der Kran-
ken charakterisiert wurde. Besonders die Untersuchungen Janets ergeben übrigens,
daß es tatsächlich Abspaltungen seelischer Zusammenhänge bei der Hysterie gibt.843
hende Psychologie bei der Analyse dieser Psychosen zu verwenden weiß. Es ist voll ausgezeichne-
ter Beobachtungen. An vorzüglichen Einzelheiten reich, hat es als Ganzes Fehler durch den
Mangel methodologischer Klärung, durch allzu zahlreiche Wiederholungen und falsche, minde-
stens sehr diskutable, allzu dogmatisch vorgetragene allgemein-psychologische und philosophi-
sche Anschauungen.
 
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