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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0436
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

393

Man hat es im selben Individuum in extremen Fällen mit zwei Seelen zu tun, die
nichts voneinander wissen. In solchen tatsächlichen Spaltungen hat das »als ob Ver-
stehen« eine reale Bedeutung. Es ist eine nicht beweiskräftig zu beantwortende Frage,
wie weit solche Abspaltungen vorkommen (Janetsche Fälle sind sehr selten), ob auch
bei der Dementia praecox eine Abspaltung tatsächlich existiert (wie z.B. Jung und
Bleuler lehren)844. Man wird gut tun, hier sein endgültiges Urteil zu suspendieren.
Die Freudschen Forscher sind jedenfalls in der schnellen Annahme von Abspaltun-
gen sehr unvorsichtig und die »als ob verständlichen« Zusammenhänge, die z.B. Jung
bei der Dementia praecox glaubte aufzudecken, sind zum großen Teil wenig überzeu-
gend.
e) Ein Fehler der Freudschen Lehren besteht in der zunehmenden Simplizität sei-
nes Verstehens, die mit der Verwandlung der verständlichen Zusammenhänge in Theo-
rie zusammenhängt. Theorien drängen zur Einfachheit, das Verstehen findet unendli-
che Mannigfaltigkeit. Freud glaubt nun, ungefähr alles Seelische auf Sexualität in
einem weiten Sinne gleichsam als die einzige primäre Kraft verständlich zurückführen
zu können. Besonders Schriften mancher seiner Schüler sind durch diese Simplizität
unerträglich langweilig. Man weiß immer schon vorher, daß in jeder Arbeit dasselbe
steht. Hier macht die verstehende Psychologie keine Fortschritte mehr. -
Unsere methodologischen Bemerkungen wollten nirgends beweisen, sondern
unsern Standpunkt und unsere Terminologie, die wir im Weiteren brauchen, festlegen.
Wir haben uns in dieser Arbeit die besondere Aufgabe gestellt, nach den verständli-
chen Zusammenhängen zwischen Schicksal und gewissen akuten Psychosen zu
suchen, deren Eigenart unter den reaktiven Psychosen wir bestimmen möchten. Um
uns diese Aufgabe zu erleichtern, brauchen wir noch eine zweite Vorbedingung, eine
begriffliche Klärung der Lehre von den reaktiven Psychosen.

Die Lehre von den reaktiven Psychosen
Möbius trennte die exogenen Psychosen, die durch eine äußere Ursache (z.B. die Sy-
philis,845 übermäßige Alkoholzufuhr usw.) entscheidend bestimmt sind, von den en-
dogenen Psychosen, die vorwiegend aus der inneren Veranlagung entspringen.846 In- 339
nerhalb der endogenen Psychosen unterscheiden wir mit Hellpach* die reaktive von
der produktiven Abnormität.847 In der ersteren reagiert eine gleichbleibende abnorme
Konstitution in abnormer Weise auf äußere Anlässe, um nachher zum früheren Zu-
stande zurückzukehren, in der letzteren läuft ohne äußere Anlässe ein Prozeß ab, der
zunehmend die seelische Konstitution verändert.

Grundlinien einer Psychologie der Hysterie. 1904, S. 71 ff.
 
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