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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0437
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

Die Begriffe exogen, endogen, Reaktion, Prozeß dienten lange zur Abgrenzung
sogenannter Krankheitseinheiten.848 In unserer Zeit verbreitet sich zunehmend die
Einsicht, daß eine Abgrenzung von Krankheits-»Einheiten« ausschließlich auf hirnana-
tomischem Wege oder durch andere somatische Untersuchungsmethoden gelingen
kann, daß dagegen eine klinische scharfe Abgrenzung und Definition von Krankheits-
einheiten ein für alle Mal aussichtslos ist. Die gewonnenen Begriffe werden dadurch
keineswegs wertlos, sie verschieben nur ihren Sinn aus der speziellen Psychiatrie in die
allgemeine Psychopathologie. So scheint uns auch der Begriff der Reaktion eine Wand-
lung zu erfahren, die ihn aus einem Begriff einer degenerativen237 Krankheitsgruppe
in einen allgemein psychopathologischen Begriff für abnorme Seelenzustände macht,
die bei allen oder wenigstens sehr vielen, im übrigen ganz verschiedenen Psychosen
auftreten. In diesem Sinne muß der Begriff der Reaktion eine Verengerung und eine
Erweiterung erfahren.
Eine Verengerung des Begriffs scheint uns in folgender Richtung nötig. Wenn ein
Mensch durch die Menstruation, durch körperliche Ermüdung, durch Hunger, durch
Haft, durch Heimweh, durch den Todesfall eines Anverwandten völlig heilbare
abnorme Seelenzustände bekam, so sprach man in allen diesen Fällen von reaktiven
Psychosen. Nach unserer Unterscheidung der kausalen und verständlichen Zusammen-
hänge werden wir hier einen tiefen Unterschied zwischen Menstruation, Ermüdung,
Hunger auf der einen, Heimweh, Todesfall auf der andern Seite machen, während die
Haft von beiden Seiten etwas, mehr jedoch von der letzteren besitzt. In den ersteren
Fällen wirken Dinge, die gänzlich außerbewußt, physisch sind, auf die seelische Dis-
position ein. Sie verändern die seelische Disposition auf unbekannte Weise und
dadurch treten abnorme seelische Phänomene subjektiver und objektiver Art zutage.
Zwischen Ursache und Wirkung besteht ausschließlich ein kausales Band. In den letz-
teren Fällen (Heimweh, Todesfall) ist die außerbewußte Grundlage der seelischen
Erschütterung Ursache einer Veränderung der seelischen Disposition (in den verschie-
densten Richtungen: vermehrte Reizbarkeit, Bewußtseinsveränderung, Disposition zu
bestimmten Gefühlsgruppen usw.). Dies ist ein kausales Band, bei dem allerdings beide
außerbewußten Glieder nur gedacht und hypothetisch sind. Dazu kommt aber ein ver-
ständliches Band: Wir verstehen die seelische Erschütterung aus der Situation, und wir
verstehen meistens Form oder Inhalt der Psychose oder beides aus der seelischen
Erschütterung zu einem beträchtlichen Teile. Wie wir hier verstehen, werden wir als-
bald sehen. Zunächst beschränken wir den Begriff der reaktiven Psychose (die Termino-
logie ist natürlich, wie immer, willkürlich) auf die abnormen seelischen Veränderun-
340 gen, die auf ein Erlebnis hin eintreten. Die Bedeutung, die die Vorgänge für die | Seele
haben, ihr Erlebniswert, die Gemütserschütterung, die mit ihnen verständlich verbunden
ist, nicht gewisse physische Wirkungen berechtigen dazu, einen daraufhin entstehen-
den abnormen Zustand reaktive Psychose zu nennen. Bei der Haft z.B. sind Ursachen
einer psychologischen Reaktion das Bewußtsein der Bedeutung dieses Vorganges, der
 
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