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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0442
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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ren Erlebnissen her, aus denen die Psychose kontinuierlich hervorging. Schübe entste-
hen spontan, Reaktionen in zeitlichem Zusammenhang mit Erlebnissen. -
In der modernen Lehre von den reaktiven Psychosen handelt es sich zum Teil um
ein Aufleben früherer Lehren von den psychischen Ursachen. Doch ist die neuere Lehre in
den Grundlagen umgestaltet. Wenn ältere Autoren in 60-70 Prozent ihrer Fälle psy-
chische Ursachen fanden, so heißt das nichts | anderes, als daß die Inhalte der man- 344
nigfachsten geistigen Erkrankungen zum Teil in verständlichem Zusammenhang mit
dem früheren Leben stehen. Wir sondern jetzt daraus die Fälle, in denen nicht nur
zufällig einige Inhalte übernommen sind, sondern in denen kurze, abgrenzbare Psy-
chosen in deutlich reaktiver Weise auf Erlebnisse entstehen. Wir sondern ferner die
Krankheitsschübe, die zufällige Inhalte ohne Erlebniswert aus dem früheren Leben neh-
men. Wir sondern ferner die Krankheitszustände, die durch eine psychische Erschüt-
terung, die gleichsam der letzte Tropfen zum Überlaufen des Gefäßes ist, bloß veran-
laßt werden (Manie, katatonischer Zustand usw., etwa durch einen Todesfall),
Krankheitszustände, die ganz unabhängig von der letzten psychischen Veranlassung
ihren eigenen Verlauf nehmen. Wir sondern überhaupt das kausale Moment streng
von den verständlichen Zusammenhängen und glauben niemals durch eine »psychi-
sche Ursache« allein eine geistige Erkrankung erklären zu können, wenn wir auch ihre
Erscheinungsweise zu einem guten Teil psychologisch verstehen. Wenn alte Psychia-
ter (z.B. Esquirol, deutsche Übersetzung S. 34-55)855 die Geisteskrankheiten aus »Lei-
denschaften« (z.B. Monomanien) von den Geisteskrankheiten aus »Erschöpfung der
Organe« (z.B. Demenz der Greise) trennten, so besteht dieser Gegensatz in der ganz ver-
änderten Form der Unterscheidung psychologischen Verstehens und kausalen Erklärens
heute fort. Während wir aber wohl Fälle finden, bei denen wir mit psychologischem
Verständnis gar nichts ausrichten können (wie z.B. bei der senilen Demenz), so kön-
nen wir heute doch prinzipiell in keinem Fall auf kausale Fragen verzichten, auch wenn
wir sehr viel »verstehen«. Woher kommt die seelische Konstitution, die diese verständ-
lichen Zusammenhänge möglich machte? So fragen wir auch bei reaktiven Psychosen
im engeren Sinne. Mit dieser Frage sind wir über die täuschende kausale Befriedigung
hinaus, die frühere Psychiater mit der Feststellung einer »psychischen Ursache« ver-
banden. Das Interesse aber für die verständlichen Zusammenhänge, welche auf der -
durch kausal zu erklärende Vorgänge - krankhaft veränderten Basis des Seelenlebens
erwachsen, ist heute in Zunahme begriffen.
Die jetzt verbreitete Auffassung von den psychischen Ursachen hat zuletzt
Bonhoeffer'856 im Zusammenhang dargestellt. Bleuler dehnt das Vorkommen »psy-
chischer Ursachen« viel weiter aus. Wir glauben, daß er Recht hat, unter der Vorausset-
zung, daß wir in der ganzen Lehre von den psychischen Ursachen kausale und verständ-

Bonhoeffer, Wie weit kommen psychogene Krankheitszustände und Krankheitsprozesse vor,
die nicht der Hysterie zuzurechnen sind? Allgem. Zeitschr. f. Psych. 68,370 ff.
 
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