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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0448
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

405

Sein weiteres Verhalten war ruhig. Er faßte den Plan, sich scheiden zu lassen. Nach einigen
Wochen wurde er voll einsichtig. Er führte seine Erkrankung darauf zurück: sein Blut sei so in Wal-
lung gewesen, daß er sich die Menschen vorstellen konnte im Geist und sie mit Augen sah, weil
er an sie dachte. Die 200 Arbeiter habe er auch in der Aufregung gesehen. »Die Leut haben ja gar
nicht das Herz gehabt, mich anzusehen, ich muß ganz verstellt gewesen sein in den Gesichtszü-
gen.« Aus Angst vor dem Bauer habe er bei jedem, der auf ihn zukam, gedacht, der wolle ihn tot-
schießen. Die Erfindungsidee korrigiert er: da ist überhaupt nichts dran. Jetzt sei er gänzlich davon
abgekommen: »fetzt hab ich meine Gedanken wieder zurückgeschlagen auf meine Familie.«
In den nächsten Wochen zeigt er recht geringen Affekt bei Entlassungswünschen, was man
damals auf seinen chronischen Alkoholismus zurückzuführen suchte. Er versuchte jetzt wieder-
holt den Aufenthaltsort seiner Frau zu erfahren, doch ohne Erfolg. Schon am 2. Juli schrieb er
an seine Frau: »Liebe Marie und Mutter! Ich kenne nur noch Arbeit, und Umgang in besseren
Kreisen. Das viele Trinken ist jetzt ausgeschlossen. Ich möchte mich der Natur besser widmen
... Wenn ich heimkomme, beginnt ein neues Leben. Es kann bald möglich sein, kann aber auch
noch etliche Wochen anhalten. Das steht ganz den Herren Ärzten frei. Bitte schreibt mir diese
Woche, wenn niemand kommt, wie es bei Euch steht, was die Kinder machen, ob überhaupt
alle gesund sind, zum Schluß noch, ob Martin Bauer nebst Karl noch nicht zur Einsicht gekom-
men sind. Eine Familie so ins Unglück zu stürzen. Aber ich bin geduldig, daß wißt ihr Mutter.
Ich vertraue auf Gott und scheue niemand. Das habt ihr schon oft gesehen. Es kommt auch
diese Stunde wieder, wo wir zusammen sind. Ich schließe hiermit mein Schreiben, in der Hoff-
nung, daß alles gesund ist. Achtungsvollst Moritz Klink.«
Am 6. September wurde K. gesund entlassen. Sofort nach der Entlassung hat er wieder regel-
mäßig geschafft, aber - nach Angabe der Frau - das Geld nicht heimgebracht. Es wurden neue
Möbel gekauft - die alten hatte K. ja verkauft, als die Frau durchging - für etwa 475 Mark, auf
Abzahlung. Die Eheleute zogen wieder zusammen. Sein Trinken blieb gleich. Von auffallenden
Zügen seines Wesens kann die Frau nicht berichten. Sie fand ihn normal. Das einzig Auffällige
ist seine Lektüre. Er liest keine Zeitungen, gar nichts, außer gewissen Büchern, die er sich meist
von auswärts kommen ließ. Schon vor 3 Jahren hat er Bücher bei einem Reisenden bestellt, die
die Frau nachher nicht annahm. Was für welche es waren, weiß sie nicht. Er besaß das siebente
Buch Mosis,858 las manchmal darin, hielt es unter Verschluß. Er erzählte, es stände darin, daß
man Geister sehen könne. Daß er selbst Geister sehen könne, hat er nie gesagt. Aus Leipzig ließ
er sich Bücher über Heilkunde kommen; wie er selbst sagt, um sich über Gallensteine, an denen
seine Frau leidet, zu orientieren. Aus Amerika bekam er Bücher von »Prof. Sage«; das gab er aber
auf, weil es zu teuer war. März 1912 ließ er sich von »Prof. Roxerie, Kingstown« sein Horoskop
stellen. »Er hat mir mein Leben geschildert, als wenn er wirklich bei mir wäre«, und habe ihn
gewarnt, er solle sich vor einer gewissen Person in acht nehmen. Weitere Zuschriften lehnte er
wegen hohen Preises ab, obgleich der Professor von 25 Mk. auf 4 Mk. herunterging.
Die zweite Psychose (Juni 1912)
Bei dem unregelmäßigen Leben beider Ehegatten kam es nicht zur geordneten Abzahlung der
neugekauften Möbel. Daher wurden diese ihnen am 7. Mai fortgenommen. Nun ging seine Frau
mit den Kindern wieder zur Mutter, er ging wieder ins Privatlogis. Die Möbel sollten zwar noch
einmal zurückgebracht werden, aber die Frau wollte nicht wieder zu ihm. Das ganze Jahr über
hat sich K. wenig oder gar nicht aufgeregt, jetzt begann die Aufregung aufs neue. Er machte sich
Tag für Tag Gedanken: »Meiner Frau liegt nichts an der Sache, gut, mag sie tun, was sie will.«
 
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