Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0464
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

421

Die Schilderung seiner Erlebnisse erscheint uns zu geordnet. Er ist sich der Widersprüche nicht
recht bewußt, die im Laufe der Psychose dasselbe Erleben in ganz verschiedenen - aber immer
konstant in der Erinnerung wiederkehrenden - Beleuchtungen erscheinen lassen. Am meisten
tritt das noch bei der Gehirnszene hervor.
Das Persönlichkeitsbewußtsein des Kranken war, soviel er angibt, immer erhalten. Er war zwar
brillanter König der Sonne u.a. geworden, aber er fühlt sich immer als Klink.
Er hat nie ein Kraftgefühl, ein Gefühl von Macht gehabt, hat nie etwas aktiv getan, sondern
mußte nur Rede und Antwort auf alle Fragen und Befehle stehen. Er fühlte sich gänzlich macht-
los, passiv, abhängig. Ich war »als wie gefangen genommen.« Im Anfang der Psychose hatte er
sehr große Angst, aber schon bald - seit der »Prüfung« und dem »Zerschneiden« - verschwand
die Angst. Er nahm mehr gleichgültig hin, was kam, und wenn es auch das Entsetzlichste war.
»Da konnte ich nichts ausrichten; da gilts aushalten, sonst nichts, was will man da machen,
wenn man da drin liegt. Es war mir egal, was kommen würde.« »Jetzt mußt halt sehen, wie das
geht.« Niemals hatte er nach seiner Ansicht ein Gefühl der Beglückung, wenn er hohe Titel u.
dgl. bekam. Wenn er einen Augenblick herauskam aus dem Erlebten, fühlte er sich erleichtert.
Als er bei der Überführung nach Heidelberg aus der Droschke sah, sagt er, »war ich froh, daß ich
aus dem Delirium heraus bin. Das soll jeder mal mitmachen. Ich war froh, daß ich Ruhe hatte.«
In den letzten Tagen der Psychose habe er sich kaum Gedanken über den Zustand gemacht.
»Ich war so im Gewirr drin, daß das Denken fertig war.« Manchmal habe er sich aber »ganz faul
hingelegt« und gesagt: »was geht das alles mich an«. Er dachte sich, ich antworte nicht mehr
als ich will; wenn ich müde bin, leg ich mich auf die Seite. Wenn er sich regte, rief man gleich:
»Ruhe«. Abgesehen von diesen kleinen Zügen, habe er sich niemals gewehrt, sondern alles über
sich ergehen lassen.
Bezüglich der Art, wie ihm die Inhalte seines Erlebens gegeben waren, vermag der Kranke keine
sehr deutliche Auskunft zu geben. Ich hatte den Eindruck, daß in seinen Schilderungen das
sinnlich anschauliche Element im Verhältnis zu dem, wie es wirklich war, zu sehr in den Vor-
dergrund tritt. Immerhin hat er eine Fülle von Trugwahrnehmungen gehabt. Optische: Gestal-
ten, Bilder, Tiere, Luftschiff, Korb usw. Während der ganzen Psychose hörte er Stimmen, deren
Art nicht festzustellen war, die aber anscheinend leibhaftig waren. Daneben spielten ohne Zwei-
fel Bewußtheiten eine große Rolle, doch hat er darüber nichts angegeben.
Nach Ablauf der akuten Psychose mit dem Eintritt in die Klinik - also in unserer Beobachtung
immer - war Klink dauernd besonnen, geordnet und orientiert. Es gingen aber in den Wochen,
die er noch in der Klinik blieb, seelische Wandlungen mit ihm vor. Anfangs erzählte er rückhaltlos
von seinen Erlebnissen, schrieb die Selbstschilderung, bis er - nach etwa 2 Wochen - erklärte, er
schreibe nichts mehr, er wollte, er hätte das andere auch nicht geschrieben. In der Selbstschilde-
rung heißt es auch, daß er sich von seiner Frau scheiden lassen will, jetzt ist das Gegenteil der
Fall. Er hat nur den einen Wunsch, seine Frau zu sprechen. »Erst meine Frau, dann mach ich die
Schilderung zu Ende.« Seine Frau kam und sagte, sie wolle nun allein bleiben und nicht mehr
mit ihm zusammen leben. Am nächsten Tage erklärte er, die Schilderung auch jetzt nicht weiter
machen zu wollen. »Ich habe das ganz beiseite getan, ich bin ganz leicht und entlastet.« Er ist
ohne Zweifel heiterer gestimmt als vor dem Besuch seiner Frau, trotz des ungünstigen Resultats.
Er erklärt: er habe getan, was er gekonnt, er habe in die Trinkerheilanstalt wollen, um der Frau
mit gutem Beispiel voranzugehen usw. Nun sei ihm alles recht. Dann sagte er aber wieder: »Meine
Frau hat keinen Grund sich scheiden zu lassen. Ich laß mich nicht scheiden.« Er drängt gar nicht
auf Entlassung: »Das steht bei den Herren Ärzten, da hab ich gar nichts zu befehlen darüber.«
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften