Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0468
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

425

Kranken gegen Alkoholismus: Es fehlte der Trinkerhumor, die überlegene Einsichtslo-
sigkeit. Er gab Alkoholgenuß rückhaltlos zu, will auch in eine Trinkerheilanstalt, wenn
man es wünsche. Es fehlten auch alle körperlichen Zeichen des Alkoholismus.
Sieht man die Krankengeschichte als Ganzes an, so kann kein Zweifel sein, daß
beide Psychosen reaktiver Natur sind. Dem Mann liegt am Zusammenleben mit Frau und
Kindern außerordentlich viel. Er schildert überzeugend, wie nahe ihm die verächtliche
Behandlung durch seine Frau geht. Zweimal hat die Frau ihn verlassen. Er mußte allein
leben, litt außerordentlich, dachte in der freien Zeit immer an sein Geschick und
bekam beide Male, das erstemal nach ca. 7 Wochen, das zweitemal nach ca. 3-3V2 Wochen,
seine Psychose, deren Inhalt jedesmal vorwiegend das Verhältnis zu seiner Frau bildete.
Die einzelnen verständlichen Zusammenhänge werden wir alsbald aufzählen.
Zunächst fragen wir nach der Ursache, durch die der Mann zu einer solchen psychoti-
schen Reaktion auf sein Geschick kam. War es seine dauernde, von Kindheit an beste-
hende seelische Konstitution? (Handelte es sich etwa um eine hysterische Reaktion?)
Oder hat ein Prozeß den Mann verändert und handelt es sich um eine Reaktion auf der
Basis der durch den Prozeß geschaffenen Veränderung? (Handelt es sich um eine schi-
zophrene Reaktion?) Wir sind der letzteren Ansicht aus folgenden Gründen: Die Psy-
chose selbst zeigt nicht die für solche schweren hysterischen Reaktionen charakteristi-
sche Bewußtseinstrübung, es fehlt der hysterische Charakter, und es fehlt auch in der
Psychose jeder theatralische Zug. Es fehlen hysterische Stigmata. Unter den Merkma-
len der akuten Psychose sind die Phantastik der Inhalte, das reiche Erleben ohne aus-
gesprochene Bewußtseinstrübung bei erhaltener Orientierungsfähigkeit und | guter
Erinnerung solche Züge, die wir bei den Psychosen sicherer Prozesse häufig zu finden
gewohnt sind. Ein bestimmter Beginn des Prozesses ließ sich nicht konstatieren, dage-
gen sprachen für das Bestehen eines Prozesses die merkwürdige Lektüre, das starre Ver-
halten des Kranken, die Nachwirkung der Psychose, die ihn bei urteilsmäßiger Krank-
heitseinsicht doch gefühlsmäßig keine klare objektive Stellung gewinnen ließ, sein
trotz aller Untreue der Frau und trotz ihrer Ablehnung kritiklos festgehaltenes Streben
nach Zusammenleben mit ihr, sein Optimismus in dieser Beziehung, seine Ansätze zu
wahnhaften Auffassungen (Mißtrauen gegen Ärzte), schließlich seine etwas merkwür-
digen Schriftstücke. Wenn auch ein Prozeß nicht im strengen Sinne als bewiesen ange-
sehen werden kann, so dürfte doch überzeugend sein, daß die Psychosen weder alko-
holisch, noch hysterisch sind, und daß sie wenigstens in die Verwandtschaft der
gewöhnlichen schizophrenen erlebnisreichen Psychosen gehören. Eine nähere Diffe-
renzierung ist zur Zeit, wo wir nur so wenige allgemeinste Krankheitsbegriffe haben,
nicht möglich. Wer den psychologischen Typus einer Psychose entscheidend sein läßt,
für den ist die Diagnose Schizophrenie in unserem Falle wohl sicher, wer den Nach-
weis eines zu bestimmter Zeit beginnenden Prozesses und der Unheilbarkeit verlangt, muß
zweifelhaft bleiben und eventuell die Unmöglichkeit dieser Feststellungen auf die
niedrige Bildungsstufe des Kranken zurückführen.

366
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften