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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0469
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

3. Der verständliche Zusammenhang zwischen Eheschicksal und Inhalt der Psychose
des Kranken liegt auf der Hand. Nicht beliebige Inhalte des vergangenen Lebens, son-
dern Inhalte der letzten durch sein Schicksal bedingten wirklichen Gemütserschütterung
gehen in die Psychose ein, nicht der selbstverständliche Zusammenhang aller psycho-
tischen Inhalte mit irgend wann früher erworbenen Inhalten, sondern der Zusammen-
hang zwischen auslösendem Erlebnis und psychotischem Erleben liegt vor. Es fragt
sich nur, wie weit wir unser Verstehen ausdehnen können, wo das vage und wo das
grundlose Deuten anfängt.
Der Kranke selbst ist sich klar: »Meine Krankheit kommt nicht von vielem Trinken,
sondern das sind hauptsächlich Gedanken, die ich mir gemacht habe über meine Frau
und Kinder«, und nach eingehender Darstellung der Verhältnisse meint er: »Da
braucht man kein Trinker zu sein. Das kann kein gesunder Menschenverstand aushal-
ten. Wie meine Frau einen zugrunde richten kann durch Verachtung, Haß und Bitter-
keit.« Über die grobe Feststellung dieses Zusammenhangs hinaus hilft uns der Kranke
nicht durch seine eigene Beurteilung, sondern nur durch seine Schilderungen.
Wir wenden uns zur ersten Psychose. Als seine Frau mit ihrem Liebhaber Martin
Bauer durchgebrannt war, begannen die intensiven seelischen Erschütterungen, aus
denen nach sieben Wochen die Psychose hervorwuchs. Der Kranke schildert uns seine
Aufregung, seine Gedanken, wie die beiden nun ein schönes Leben führen und er
bezahlen muß. Er schildert, wie er sich zu helfen sucht durch den Schlüsselzwang; wie
er dann in den Tag hineinlebte und sich dem Gedanken hingab, was wohl mit ihm und
den Kindern werden würde. Seine Aufregung wurde durch Zuträgereien über sonstige
Untreue der Frau gesteigert. In der zunehmenden Aufregung verkaufte er 14 Tage nach
367 dem Fortgang der Frau alle Möbel; die er nicht verkaufen konnte, verschenkte er. | Wie
er nun in Privatlogis wohnte, schreibt er, »konnte ich mich nicht beherrschen, dachte
immer, was mir noch widerfahren könne«. Er »lebte unruhig«, arbeitete aber jeden
Tag, konnte nicht mehr essen und »hielt sich mit Trinken durch«. Als seine Frau nach
Mannheim zurückgekommen war, versuchte er sie zur Rückkehr zu ihm zu veranlas-
sen, hatte dabei große Angst vor dem anwesenden Liebhaber, der ihn vor mehreren
Wochen einmal verprügelt hatte. Er erreichte nichts, wurde durch Sticheleien seiner
Mitarbeiter noch mehr gequält und verfiel nach acht Tagen dann in einen psychoti-
schen Zustand, der langsam im Laufe mehrerer Tage aus dem besonnenen Zustand her-
auswuchs und dann in zwei Tagen abgelaufen war. Sein Zustand entwickelte sich mit
Angst und dem Bewußtsein, verfolgt zu sein; er bewegte sich in der wirklichen Welt,
suchte geordnet eine neue Arbeitsstelle auf dem Arbeitsnachweis, aber wurde dabei
dauernd von dem Liebhaber seiner Frau verfolgt. Dazu kamen dann zahllose unbe-
kannte Menschen, 117 Kanonen usw., die es auf ihn abgesehen hatten. Auf dem Höhe-
punkte seiner Krankheit in der Krankenhauszelle sah er den Liebhaber seiner Frau, sah
er seine Kinder. Er schlug auf den Liebhaber los. Seine Frau verlangte er für sich, doch
der Liebhaber hob sie hoch und hielt sie fest. Auf diese Weise tobte er einige Stunden,
 
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