Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0470
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

427

bis er einschlief und bis auf die fehlende völlige Einsicht am nächsten Tage genesen
erwachte.
Inhalt der psychotischen Erlebnisse waren also die Ängste und Wünsche des Kran-
ken, die ihn die letzten Wochen vor der Psychose dauernd beseelt hatten. Dieselben
Ängste und Wünsche, die die lange Folge von Gemütserschütterungen bedingten, wel-
che die Veränderung in den seelischen Mechanismen zur vorübergehenden Psychose
zur Folge hatten. Vor allem die Ängste fanden in der Psychose ihre Verwirklichung
durch die Verfolgung von seifen des Liebhabers. Aus Angst vor dem Bauer, so meint er
selbst, habe er dann bei jedem, der auf ihn zukam, gedacht, der wolle ihn totschießen.
Aber auch Wünsche fanden Erfüllung: Er verprügelte den Liebhaber und war nahe
daran, seine Frau wiederzugewinnen.
Können wir noch weiter in unserem Verständnis gehen? Können wir die phanta-
stischen Verfolgungen durch Menschenmassen und Kanonen, die Erfindung einer
Sicherung vor Kugeln, den Inhalt der Stimmen, er sei ein Mörder usw., verstehen? Wir
wissen, daß die Freudsche Schule uns hier eine Menge von Zusammenhängen lehren
würde: Irgendwelche Kindheitserinnerungen stehen hinter dem eigentümlichen sexu-
ellen Verhältnis zu seiner Frau, das so wenig sinnlich betont ist; sein Wunsch, den Lieb-
haber zu ermorden, klingt ihm aus den Vorwürfen seiner Verfolger, er sei ein Mörder,
entgegen; sein verdrängtes Minderwertigkeitsgefühl ist durch das Gefühl der Sicher-
heit vor Kugeln und durch den Stolz des Erfinders im Bewußtsein vertreten usw. Für
uns hat dieses Verstehen keine starke Überzeugungskraft. Es ist ein »als ob Verstehen«,
das uns sowohl bezüglich des Mördervorwurfs, wie bezüglich der Erfinderidee und der
Sicherung eine gewisse Plausibilität besitzt, ohne uns zu befriedigen. Zufällige, d.h.
nicht durch die affektbetonten Erlebnisse und Schicksale verständliche, sondern gleich-
gültige Assoziationen aus irgendwelchen früheren und gegenwärtigen Eindrücken kön-
nen u.E. zum selben Resultat führen. Der Unterschied zwischen den verständlichen
Zusammenhängen, deren Existenz wir beipflichten, und den abgelehnten besteht in
der, auf Grund der | verfügbaren Menge an Materialgrundlagen ermöglichten, psycho-
logischen Einfühlung (nicht rationalem Eindenken), die uns eine mehr oder minder
große Evidenz des psychologischen Zusammenhangs aufzwingt. Der Natur dieser Evi-
denz nach kann es nicht anders sein, daß es alle Übergänge gibt von überzeugenden
Zusammenhängen über zweifelhafte, mehr oder weniger plausible, zu nicht im gering-
sten einleuchtenden Zusammenhängen. Somatisch gerichtete Psychiater pflegen die
Grenze zu eng zu stecken, die Freudsche Schule steckt überhaupt keine Grenzen und urteilt
nicht selten auf Grund rationalen Eindenkens in assoziative Beziehungen, statt auf
Grund breiten psychologischen Ein fühlens.
Der Verlauf in der ersten Zeit nach der Psychose ist charakteristisch. Die Psychose
muß gleichsam eine Entladung, eine Erlösung von seinen bedrückenden Sorgen und
Ängsten, eine Befreiung von Druck und Verzweiflung mit sich gebracht haben. Er ist
die ersten Tage zufrieden, redet von seiner Erfinderidee, will sich scheiden lassen. Aber

368
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften