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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0471
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

nach einigen Wochen sagt er: »Jetzt hab’ ich meine Gedanken zurückgeschlagen auf
meine Familie.« Er bemüht sich um seine Frau in sehr planmäßiger und konsequenter
Weise, will sich nicht mehr scheiden lassen und kehrt dann tatsächlich zum Zusam-
menleben mit der Familie zurück.
Entwicklung und Verlauf der zweiten Psychose haben eine große Ähnlichkeit mit der
ersten. Nur bricht die Psychose schneller aus, dauert länger (sieben Tage) und wird an
Inhalt außerordentlich viel reicher. Wieder verläßt ihn die Frau, nachdem schon das
Jahr über manche Ärgernisse vorgekommen waren: Der elektrische Schaffner taucht
als neuer Liebhaber auf. Wieder dauert es einige Zeit, daß der Kranke, seinen Gedan-
ken hingegeben, aus seiner seelischen Erschütterung heraus psychotisch wird. Wieder
steht der Inhalt der Psychose in deutlichen Beziehungen zu seinem Schicksal, wieder
fühlt er sich nach Ablauf der Psychose befreit, will sich scheiden lassen, gibt rückhalt-
los Auskunft und wieder wendet er seine Wünsche nach wenigen Wochen ganz auf
das Zusammenleben mit seiner Frau zurück, gibt alle Scheidungspläne auf und wird
gleichzeitig verschlossener, ablehnender, bezüglich aller sein Schicksal und seine Psy-
chose betreffenden Fragen.
Bezüglich des Seelenzustandes des Kranken in der Zeit, als seine Frau ihn wieder
verlassen hatte, bezüglich seiner unglücklichen Versuche, eine Einigung herbeizufüh-
ren und bezüglich seines schnell wieder zurückgenommenen Antrags auf Eheschei-
dung verweisen wir auf die zusammenhängende Schilderung in der Krankenge-
schichte. Die Psychose trat wieder an einem Samstagabend und am Sonntag auf
(vielleicht spielt der länger dauernde Mangel an Ablenkung durch die Arbeit dabei eine
gewisse Rolle).
Die Veränderung der seelischen Disposition und der außerbewußten Mechanis-
men, deren Ursache wir in den dauernden Gemütserschütterungen bei einer schizo-
phrenen Konstitution erblicken, machte sich zuerst in unbestimmter Angst und in dem
Gefühl der Unsicherheitbemerkbai. Nach wenigen Stunden gewannen die vagen Gefühle
aber schon Inhalte, und zwar zunächst ausschließlich solche, die sich auf das Verhält-
nis zu seiner Frau bezogen: Sein Schwager und andere Anverwandte bedrohen ihn,
dann geben sie ihm wieder »vollständig Recht« und wollen seine Frau zwingen, zu ihm
zurückzukehren. Stimmen der Schwäger rufen: Ich steche ihn nieder, und dann: Dem
369 tust du | nichts, den kenne ich von Kind an. So wechselte das immer hin und her. Dann
hörte er, wie seine Frau mißhandelt wurde, seine Kinder nach ihm schrien, seine Frau
wieder zu ihm wollte. Er stellte sich auf einen gnädigen Standpunkt: Sie solle nur herz-
haft kommen, dann wolle er sich’s überlegen. Seine hungernden Kinder rief er zu Brot
und Wurst, die er teilte, aber es kam niemand. Es handelt sich also zunächst um die
psychotische Realisierung von Vorgängen, die in seiner jetzigen Situation tatsächlich mög-
lich waren und die den eigentlichen Inhalt seines Lebens in der letzten Zeit bilden.
In einer zweiten Phase treten phantastische Realisierungen auf, die aber noch
durchaus in derselben verständlichen Beziehung zum Anlaß der Psychose stehen. Die
 
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