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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0473
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

son zu einer einheitlichen Folge phantastischer Erlebnisse, die in der Krankenge-
schichte der Menge nach am meisten hervortreten. Der Kranke wird verdammt, soll
mit vielen anderen »entleibt« werden, wird in einer großen Halle »sortiert«, durch
Zufall gerettet, dann nach glänzendem Bestehen einer Prüfung absichtlich am Leben
gelassen. Ihm werden »Verträge« vorgelegt, er wird zum »brillanten König der Sonne«
oder zum »Befehlshaber des Tages« ernannt, begeht durch Abtreten seiner Stellung
wegen seiner Krankheit an dem Befehlshaber der Nacht ohne Wissen »Tarifbruch«,
wird wieder verfolgt, geschossen usw. Durch Tücken eines andern wird ihm sein
Gehirn genommen, Verwechslungen kommen vor usw.
Außer der allgemeinen Stimmung des Verfolgtwerdens und des Gerettet- und
Geschütztwerdens, vermögen wir zwischen diesen Inhalten und dem Schicksal, das die
Psychose veranlaßt, keinen überzeugenden verständlichen Zusammenhang einzusehen.
Wir wissen wohl, daß die Freudsche Schule durch Symbolik solche Zusammenhänge
nicht bloß im einzelnen entdecken würde, sondern daß sie alles verständlich machen
würde. Da durch Übertragung der Symbolik von andern Fällen her wohl eine mögliche,
nicht aber eine überzeugende Deutung gewonnen werden kann, verzichten wir auf eine
Zusammenstellung der Symbolik aus den Schriften der Züricher Schule,860 die auf unsern
Fall eventuell übertragbar wäre. Da in zahlreichen Unterhaltungen mit dem Kranken
über seine Inhalte für uns solche Symbolik nicht feststellbar war - außer den wenigen
möglichen Komplexwirkungen, die wir in der Krankengeschichte registriert haben -,
müssen wir vorläufig verzichten, tiefer in das Verständnis dieses Falles einzudringen. Wir
gestehen aber, daß wir nicht der Ansicht sind, die überhaupt möglichen Grenzen des
Verstehens hier schon annähernd erreicht zu haben.
Nach Ablauf der Psychose fühlt sich der Kranke frei, spricht rückhaltlos, verfaßt seine
Selbstschilderung. Er ist voll natürlicher Empörung auf seine Frau: »Ich lasse mich schei-
den und lasse ihr die Kinder nehmen.« Als er nach einigen Wochen wieder ganz im
Gegenteil nur den einen Gedanken hat, wie er wieder zu seiner Frau kommen kann, wird
er auch verschlossen und ablehnend, ohne daß man seinen Zustand als psychotisch
hätte ansehen können. Er versprach, den Rest seiner Selbstschilderung zu schicken,
sobald er wieder mit seiner Frau zusammen sei. Er hat das nicht getan.
Dr. Joseph Mendel,861 geb. 1883, Jude, machte im Mai 1912 eine etwa 14 Tage dauernde akute
erlebnisreiche Psychose durch. Um die Übersicht zu erleichtern, setzen wir die Chronologie der
Hauptereignisse voran: 1904 Abiturium, wurde Jurist; 1906 Plan umzusatteln, Erlahmen seines
Fleißes; 1908 Philosophische Studien; 1910 stärkere Veränderung, intensive philosophische Stu-
dien in München; 1911 Referendar in der Heimat, im Dezember Staatsexamen; 1912 in der Hei-
371 mat; Februar Eindruck der Dame X; Anfang April Examensent|täuschung durch schlechte Note;
8. Mai unerwarteter Eindruck der Dame X; 12. Mai (Sonntag) wegen Nervosität Reise in einen
Badeort; 14. Mai (Dienstag) Aufnahme in die Heidelberger Klinik mitten in der akuten Psychose.
 
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