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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0474
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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Die Anamnese von den Angehörigen
Heredität: Wer nervös, jähzornig, eigenartig, sehr selbständig. Sämtliche Geschwister des Va-
ters absonderlich, leben zurückgezogen, haben wenig menschliches Verständnis für die Eigen-
art anderer. Ein Bruder an Tabes gestorben. Mutter nervös, Verwandtschaft der Mutter ohne Be-
sonderheiten. Großeltern beiderseits ohne Besonderheiten.
Der Kranke ist der älteste von drei Kindern. Der Bruder ist nervös und hat leichte Stimmungs-
schwankungen. Die Schwester ist auch nervös, magenleidend, zu Beschwerden neigend.
Die Ehe der Eltern war eine für die Mutter erzwungene. In der Ehe gab es viel Disharmonien.
Der Vater ist Kaufmann, lebt in recht guten Verhältnissen.
Kindheit: Lernte etwas spät laufen und sprechen. Kein Bettnässen, keine Angstzustände, keine
Gichter, keine Ohnmächten. Er hatte aber schon als Kind einen Hang zur Bequemlichkeit und
Unselbständigkeit. Auf der Schule war er anfangs ein guter, später ein mittlerer Schüler. Die Schule
war ihm eine Tortur. In den letzten Schuljahren war er trotz seiner guten Begabung und trotz sei-
nes Fleißes ein schlechter Schüler. Er war immer sehr erregt bei Massenarbeiten und schüchtern
bei Antworten. In Unterprima trat er wegen schlechter Zensuren aus und wurde Kaufmann. Die-
ser Beruf lag ihm nicht, er war sehr niedergedrückt. Nach 6 Monaten arbeitete er wieder priva-
tim für die Schule, trat wieder ein und machte nun, nachdem die Zensuren jetzt besser waren,
mit 2072 Jahren 1904 das Abiturium mit guten Noten.
Er war bis dahin nicht reizbar, hatte keine Stimmungsschwankungen, war jedoch schon als
Kind etwas phantastisch, hatte schon als Schüler Interesse für Philosophie.
Körperlich war er bedeutend kräftiger als später, war ein guter Turner. In sexueller Beziehung
war er nicht auffällig.
Nach dem Abiturium (1904) ging er, um Jurisprudenz zu studieren, zur Universität. Er arbei-
tete fleißig in seinem Berufe, war aber sehr unselbständig. Er war nicht aktiv. Nebenbei hatte er
lebhaftes Interesse für Philosophie und Literatur und äußerte damals schon, er möchte sich die-
sen Fächern zuwenden.
Im 4. oder 5. Semester (1906, jetzt vor 6 Jahren) ließ sein Fleiß nach. Das Interesse für Jurispru-
denz verwandelte sich in Ekel und Abscheu. Er studierte immer mehr schöne Literatur und Phi-
losophie, und hatte den ernstlichen Plan, umzusatteln. Seit jener Zeit hat er mehr Alkoholika
genossen, fiel öfters als angeheitert auf, was zu sein er selbst aber immer bestritt.
Seit 1908 fühlte er sich unverstanden und falsch von der Familie behandelt, besonders weil sie
seinem Umsatteln zur Philosophie nicht entgegenkam. Er hatte Auftritte mit seinen Eltern
wegen dieses Planes. Diese Auftritte regten ihn sehr auf. - Auch unter Kameraden fühlte er sich
unbehaglich, isolierte sich mehr und mehr, die Gesellschaft paßte ihm nicht, die Menschen
hatten so wenig Interessen (es waren Juristen und Mediziner).
Er war in all den Jahren oft verstimmt. Viel auffallender wurde das seit 1910. Seit dieser Zeit
war er nach dem Eindruck des Bruders stärker verändert. In dieser Zeit trieb er in München unter
Täuschung seiner Eltern ausschließlich Philosophie und wollte eine Abhandlung (sein
»System«) schreiben (vgl. später). Er war seit dieser Zeit auffallend wortkarg. Er klagte über den
Verkehr, über die ihm nicht zusagende Gesellschaft. Sein ständiges Thema war, daß er sich nicht
wohl fühle. Ferner war sein Wesen viel mißtrauischer. Nachdem er München verließ, war er tief
deprimiert, war unzugänglich, hatte keinen Appetit, war reizbar, dabei ohne jede Initiative. Auf der
einen Seite manchmal sehr beeinflußbar, war er in anderer Hinsicht ganz unzugänglich, beson-
ders sobald er die Absicht merkte, daß man ihn beeinflussen wollte.
 
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