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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0475
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

Die Wesensänderung des Kranken machte sich zum Teil als Steigerung früher immer vorhande-
ner Charakterzüge bemerkbar. Immer war er kritisch und sehr scharf (er selbst sagt: ich bin nega-
tiver als mein Bruder, ich finde schneller den Haken), jetzt entwickelte sich ein vernichtender
Skepticismus. Niemals hatte er Initiative wie ein normaler Mensch, jetzt verlor er fast alle Initia-
tive.
Sein Benehmen seit der Münchener Zeit (die letzten i’A Jahre) schildert der Bruder: Er »simu-
lierte gern den Verrückten«, besonders wenn er angeheitert war. Er stellte sich gleichgültig, ohne
3/2 es innerlich zu sein. Ab und zu hatte er etwas Gezwungenes in seinem Benehmen. | Dann war
er in den letzten Jahren auffallend brüsk und beleidigend gegen Bekannte, im allgemeinen aber
sehr schüchtern. Er war auffallend reinlich, wusch sich sehr oft die Hände, hatte aber keine Bak-
terienfurcht. In sexueller Beziehung war er immer sehr zurückhaltend.
»Wissenschaft ist nichts, hat nie Ergebnisse« und ähnliche Äußerungen machte er in den
letzten 3 Jahren häufig. Seine skeptischen Äußerungen waren aber von der Laune abhängig.
Innerlich fühlte er sich schon seit 5 Jahren andern Leuten weit überlegen. Man hielt ihn übri-
gens in seinem Kreise für einen hochbegabten Juristen.
Dezember 1911 machte er sein Staatsexamen. Er hatte überhaupt nicht dazu gearbeitet, faßte
das ganze Examen als Humbug auf und unterdrückte nicht völlig manche als »Frivolitäten« auf-
gefaßte Äußerungen. So setzte er als Motto auf die Arbeit: »Haben Sie nicht den kleinen Cohn
gesehen.« Mit seiner Arbeit war er übrigens sehr zufrieden, hielt sie für gut und erwartete
bestimmt, die Note I zu bekommen.
Anfang April erhielt er die Note, aber eine schlechte II. Das hat ihn sehr aufgeregt. Ein paar Tage
hat er weder essen noch schlafen können, wollte immer allein sein und duldete außer der Schwe-
ster niemanden bei sich. Am ersten Tage hat er sich betrunken, kam am andern Morgen spät aus
dem Bett und war sehr verstimmt. Er hatte dann einen Auftritt mit der Mutter, die ihm die Levi-
ten las. Appetitlosigkeit und »nervöse Magenaffektion«, Schlafstörung und Verstimmung gin-
gen nach 8 Tagen zurück, doch blieb er leicht erregt und etwas nervös.
Er war nun von Mitte April an ruhiger, zugänglicher, faßte den Plan, sich als Jurist zu habili-
tieren und begann »gedanklich« an einem juristischen Thema zu arbeiten. Er las viel in juristi-
schen Büchern. Jedoch merkte er, daß er nichts fertig brachte, erklärte, er habe keine Ausdauer
und wurde zunehmend verstimmter. Abends starrte er den Bruder mehrmals in den letzten
Wochen an: Gelt du kennst mich nicht mehr? Der Bruder ist überzeugt, daß er das mit vollem
Ernst sagte. Theatralisches lag ihm fern.
Am 7. Mai war Besuch im Hause. Er konnte gegen ein junges Mädchen in seiner Depression
nicht höflich genug sein, das schien ihn noch mehr zu verstimmen. Abends machte ihm seine
Mutter Vorwürfe, er solle sich endlich zu einem Lebensberuf entschließen. Er blieb still, aß
nichts. Am 9. Mai verstimmte ihn ein Bekannter, der nach seinem Beruf fragte, merklich. Die
Verstimmung ging bis zum 10. Mai wieder zurück. An diesem Tage meinte er sogar, es werde bes-
ser. Am Abend dieses Tages passierte trotzdem die Begegnung mit dem Rad auf dem Spaziergang
mit der Schwester (vgl. später). Seine Äußerungen wurden so aufgefaßt, als ob er nicht-wisse, ob
er halluziniere oder nicht.
Nun begann er sehr wenig zu schlafen, bekam vom Arzt Schlafmittel. Er klagte wohl über Kopf-
weh und meinte, er brauche Ruhe.
Am Sonntag, den 12. Mai reiste er auf Rat des Arztes zur Erholung nach einem größeren Badeort.
Seine Mutter meinte, ob ihn nicht jemand aus der Familie begleiten, oder ob er nicht in N. unter
ärztliche Aufsicht sollte. Der Arzt hielt das für unnötig. So fuhr er allein, ging ins Hotel, aß zu
 
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