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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0480
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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| Die Zunahme der Einfühlungsfähigkeit in den letzten drei Jahren
Vor etwa 3 Jahren (Abschluß des Studiums), merkte er ganz allmählich eine Veränderung seiner
Einfühlungsfähigkeit. Er hatte von jeher das Bedürfnis, viel zu verstehen, brauchte dazu aber
immer eine Vorarbeit des Denkens. Jetzt begann er sich ohne Denken viel unmittelbarer und in-
tensiver einzufühlen. Vor etwa 2 Jahren (unmittelbar vor der Abreise nach München zu den phi-
losophischen Studien) nahm diese Einfühlungsfähigkeit wieder zu; seit Februar 1912 (Begeg-
nung der Dame X.) war eine weitere starke Steigerung, im April (der Examensmißerfolg) noch
einmal eine Steigerung. Er fühlte sich so intensiv ein, daß er z.B. dachte: keiner versteht so fein
und so differenziert etwa Irene Triesch.881 Er erlebte aufs stärkste mit, wenn er Dostojewski las.
Hamlet regte ihn auf, daß er die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Dabei trieb ihn immer wei-
ter ein Wille zur Bildung. Er wollte möglichst intensiv verstehen. Doch niemals in all den Jah-
ren hat er »sich bei der Einfühlung verloren«. Sie kostete immer noch eine gewisse Anstrengung,
während das intensive Erleben der vergangenen psychotischen Phase ganz von selbst kam, von
einer noch ganz anderen Unmittelbarkeit war und dazu führte, »daß er sich ganz verlor«.
Vor einem Jahre etwa las er Wölfflins Dürer.882 Er fühlte sich sehr unterlegen an Kenntnissen,
aber fühlte sich dem Autor an Verständnis der Werke Dürers weit überlegen, was den seelischen
Ausdruck der Personen anging. Er empfand eine unmittelbare seelische Bedeutung der Bilder, die
bei Wölfflins Schilderung nicht in dem Maße hervortrat: z.B. erstes Selbstbildnis: Erwachen des
Bewußtseins seiner selbst. In der Haltung der Hand liegt so ein Erschrecken; das bin ich selbst.
Ein ganz neues Erleben blitzt in ihm auf, von der Art, wie es in dem Satze ausgedrückt ist: »Wer
sich doppelt sieht, der stirbt.« Besonderen Eindruck machten die Holzschnittfolgen des Mari-
enlebens und der Passion (ferner besonders Bilder der alten Pinakothek).
Die Menschen der Umgebung erschienen ihm schon länger (seit 2-2 V Jahren) anders. Es kam
allmählich, daß sich seine Auffassung änderte. Er glaubt nicht, daß die Menschen anders gewor-
den seien. Er hatte ein eigentümliches Gefühl: die Menschen fühlen und erleben komplizierter,
als sie selbst wissen. Sie kommen nicht zum Bewußtsein ihrer eigenen Kompliziertheit (nament-
lich Frauen). Bei diesen Gefühlen hatte er selbst das Bewußtsein von etwas Anormalen. Er wußte:
andere haben das nicht.
Die letzten äußeren Erlebnisse vor der Psychose
Im Februar 1912 sah er auf der Straße eine Dame, die großen Eindruck auf ihn machte. Er fühlte
sofort jene eben bemerkte unbewußte Kompliziertheit dieses Wesens. Er fühlte den eigenarti-
gen Charakter. Sie ist kolossal entwicklungsfähig, aber noch so naiv, ihrer selbst gar nicht be-
wußt. Vielleicht darum wurde er so angezogen. Er sah es ihr am Gesicht an, wie vielseitig und
differenziert sie fühlte. Im Theater beobachtete er sie. Sie hat auch ihn schnell verstanden. Das
bemerkte er sofort an Gesichtsveränderungen (offenbar wahnhaft). Ein Verständnis feinster Art
ging zwischen ihnen beiden hin und her, ein Nachfühlen von dem, was man selbst fühlt. Er hat
die Dame dann oft auf der Straße gesehen. Zu persönlicher Bekanntschaft ist es offiziell nie ge-
kommen. Er hat sich der Dame nie zu nähern versucht. Sie lebt in andern Gesellschaftskreisen
als er, darum war auch keine Gelegenheit zur Bekanntschaft vorhanden. Diese Dame spielt im
weiteren eine bedeutende Rolle. Sie war in fernes Ausland abgereist. Er meinte, sie würde nicht
wiederkommen. Am 8. Mai 1912 sah er sie auf der Promenade seiner Heimatstadt. Er war aufs
höchste überrascht, fragte seine Schwester, ob das Fräulein X. sei und rief: »Ja, da ist sie wirklich
da.« Nicht im Ernst, aber in der Überraschung kam ihm das Bedürfnis, sich die Wirklichkeit be-
stätigen zu lassen.

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