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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0481
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

Neben dieser Dame spielten unter den der Krankheit vorhergehenden seelischen Erschütte-
rungen die Probleme von Beruf und Lebensaufgabe eine Rolle. Er dachte, er kriegt im Examen eine
I oder er fällt durch. »Ich fühle mich so wohl, ich glaube, ich krieg eine I«, so war seine Stim-
mung. Dann kam der große Ärger, über die schlechte Zensur. Er glaubte, daß man wegen frivo-
ler Bemerkungen seinerseits schlecht zensiert habe. Er gewann die Überzeugung, es sei nicht
mit rechten Dingen zugegangen. Im April erfuhr er die schlechte Examensnote (Näheres dar-
377 über in der objektiven Anamnese). Die drei Etappen in der seelischen Veränderung sind also:
1912. Februar: Dame X. gesehen. April: Examensmißerfolg. 8. Mai: Frl. X. wiedergesehen. Ein Ein-
fluß dieser äußeren Ereignisse auf den seelischen Zustand ist nach der subjektiven Anamnese
unverkennbar. Äußerlich habe er sich dabei nie etwas anmerken lassen, meinte er. Als er Frl. X.
wiedersah, benahm er sich im Gespräch, als ob er gar keinen besonderen Eindruck erlebte.
Die wahnhaften Erlebnisse nach dem Examensmißerfolg
Erst spät und ungern rückt der Kranke mit Gedanken und Erlebnissen heraus, die ihm, nach-
dem er die schlechte Note erhalten hatte, vor Ausbruch der Psychose passierten. Er hatte die
Idee, im Staatsexamen betrogen zu sein. Man habe ihn zu Unrecht zurückgesetzt. Das Ministe-
rium wolle ihn offenbar bei Seite drängen.
Auf der Straße gingen ihm Richter und Verwaltungsbeamte aus dem Wege. Die Leute grüß-
ten ihn nicht und machten ein möglichst undurchdringliches Gesicht. Die Leute, gegen die er
Antipathie hatte, hatten Angst vor ihm, wohl weil er sie so wütend anschaute.
Wenn er durch die Felder ging, so fühlte er, daß alle Bauern ihn kannten, ihm wohl wollten.
Mit Redensarten hänselten sie ihn auf liebenswürdige Weise, das sollte heißen, daß man mit ihm
sympathisiere. Er fühlte, daß eine Revolution im Anzug sei, daß man allgemein losgehen wolle.
Dann gab es bösartige Leute, die gegen ihn waren. Es gab Reibereien und gewisse Ereignisse,
deren eigentliche Bedeutung ihm nicht klar ist: Eines Tages (vielleicht 8 Tage vor der akuten Psy-
chose) bekam er von seinem Buchhändler einen Antiquariatskatalog über Romane. Die einzel-
nen Namen und Titel spielten zweifellos auf ihn selbst an. Entweder hatte das einer geschickt,
der ihm wohl will oder einer, der ihn zu Dummheiten veranlassen und sich über ihn lustig
machen will. Jedenfalls ist er nicht vom Buchhändler geschickt, sondern irgend jemand hat sich
ein Kouvert der Buchhandlung mit Aufdruck verschafft und die Zusendung fingiert. Der Buch-
händler hat ihm auch, obgleich er da sehr viel kaufte, niemals Anpreisungen geschickt. Ein
Romantitel »Fleiß und Arbeit« soll ein Lustigmachen über Zeugnisse sein, die ihm über seine
Referendartätigkeit ausgestellt werden. Da wurde einmal der Fleiß bei ihm besonders betont.
»Schlichter Abschied« deutet auf sein Beiseitegeschobenwerden durch das Ministerium. Der
Name Ohnet883 ist zu lesen oh net (= oh, nicht). »Nieder mit Napoleon« beziehe sich auf ihn.
Jetzt (nach der akuten Psychose) meint er: »ich kümmere mich nicht darum.« Beide Auffassungs-
weisen, es sei Anspielung oder es sei ein harmloser Katalog, beständen bei ihm nebeneinander.
Auf der Straße und im Bett hörte er manchmal (nicht oft) Worte, die sich auf ihn bezogen. Auf
der Straße: »Das ist der Mann«, »Sein Vater stellt ihm noch seine Kleider«, »Geh nicht rasch, ein
klein bißchen langsamer«, »Er geht noch spazieren, er ist noch nicht ganz so weit«. Im Bett:
»Sollte man denken, daß ein Mensch soll das fertig bringen können«, »Ruhig, ruhig, Du darfst
nichts sagen«.
Vier Tage vor dem Ausbruch der Psychose wurde vor dem Hause ein Ständchen gebracht.
Darin kam vor: »Siegreich wollen wir Napoleon schlagen.« Das hatte Bezug auf seine Einbil-
dung, das Staatsexamen als eine verrückte Prüfungsmethode abschaffen zu können.
 
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