Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0482
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

439

Auch jetzt nach der Psychose ist der Kranke sich über alle diese Erlebnisse nicht im Klaren. Er
gibt bei jedem einzelnen Erlebnis Täuschungsmöglichkeit zu, aber, »es lag eine Unsumme von
Erlebnissen vor, die alle auf denselben Punkt deuteten«. Ein eigentliches System hat er nicht erarbei-
tet. Es ist alles unklar: die Intriguen des Ministeriums, die Vorboten eines revolutionären Vor-
gangs, die Anspielungen auf ihn usw.
Die letzten Tage vor der Psychose
Aus den letzten Tagen vor der Abreise nach dem Badeort (12. Mai) berichtet er folgendes: Ca. am
8. Mai (am Tage, an dem er Frl. X. wiedersah) war er abends in seinem Zimmer. Dies hat Aussicht
auf einen viereckigen Platz und gegenüberliegende Häuser. Im Hause gegenüber wurde abends
oft einKind ausgezogen, was er durchs Fenster beobachten konnte. Heute war das ganz anders wie
sonst. Das Kind war wie tot und wurde nach dem Auskleiden eingewickelt. Es war ganz steif und
machte den Eindruck einer Mumie. Das Kind wurde fortgetragen, aber nach einiger Zeit wieder-
holte sich der ganze Vorgang in genau derselben Weise. | Dann wurde die Jalousie zurückgezogen, 3 78
und es wurde hell gemacht. Die Dauer des Vorganges war eine normale. Die Wiederholung ge-
schah sofort ohne lange Pause. Als er sah, daß das Kind steif wie eine Mumie war, bezog er den Vor-
gang sofort auf sich, zumal vom mittleren Stockwerk ein paar Tage vorher ihm von einer Dame ge-
winkt worden war. Er fragt sich gleich, ob das jemand anders sei und nicht ein Dienstmädchen,
die das Kind einwickele; ob das Ganze nicht die Bedeutung habe, ihm ein Zeichen zu geben. Jetzt
war ihm die Bedeutung unklar. Erst auf der Reise nach dem Badeorte wurde sie ihm klar: »ich soll
selbst willenlos werden und mich ganz dem, was auf mich eindringt hingeben (Einwicklung),
dann wird es irgendwie hell werden (Erleuchtung des Zimmers)«. In den darauf folgenden Tagen
wurde diese Bedeutung dann religiös: er muß sich hingeben, damit das goldene Zeitalter, die Er-
lösung kommt. Ob es sich bei dem Vorgang um Halluzinationen oder um Umdeutungen han-
delte, das weiß er nicht. Er findet keinen Maßstab zur Beurteilung, ob es Halluzinationen waren.
Er findet dies unwahrscheinlich. Die Beziehung des Vorganges auf sich selbst hält er bei der Situa-
tion nicht für abnorm, sondern für durchaus verständlich.
Ca. am 10. Mai nachts um 2 Uhr erlebte er folgendes: Er saß am Tisch in der Nähe des offe-
nen Fensters. Der Laden an einem Fenster gegenüber war halb geschlossen. Mit einem Schein-
werfer wurde plötzlich das Zimmer erleuchtet, um zu sehen, ob er wach sei, dann verschwand
er gleich wieder. Nun begann eine kinematographische Vorstellung auf dem Laden. Er sah, wie er
dort sich selbst auszog, langsam, schwer und müde. Gleich dachte er, das sieht doch jeder auf
der Straße. Er überlegte sich, was das bedeuten soll, dann kam dasselbe Bild noch einmal. Er trat
zum Fenster und zog sich selbst aus, und nun wurde die Darstellung plötzlich abgebrochen. Als
sie verschwunden war, zog er sich wirklich aus mit dem Bewußtsein, die Sache verstanden zu
haben: »Das muß irgend jemand sein, der es gut mit mir meint«. Er dachte an Frank Wede-
kind.884 Bei der kinematographischen Darstellung sah er gleichzeitig die Straße. Es war gar kein
Zweifel an der Wirklichkeit. Es dauerte etwa 3 Minuten. Auch jetzt kann er nur wegen der
Unwahrscheinlichkeit an Halluzinationen glauben. Es schien damals der Mond. In seinem Zim-
mer hatte er kein Licht. - Am selben Tage begegnete ihm auf der Straße eine Frau. Sofort über-
kam ihn die Idee: »Das muß Frau Frank Wedekind sein.« Er kannte sie von früher her. Sie sah
genau so aus. Wie im Schmerz schaute sie schnell weg.
Am Tage vor der Reise nach dem Badeorte, am n. Mai, machte er einen Spaziergang mit sei-
ner Schwester. Damals schon fühlte er die Umgebung verändert. Die sinnliche Wahrnehmung
war jedoch nach seinen bestimmten Aussagen während der ganzen Psychose nicht verändert
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften