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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0485
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

gestorben sind und nur zum Schein da sind; ich will mal sehen wie sie reagieren. Er gab dem
Gepäckträger statt ein paar Groschen wie selbstverständlich 3 Mark. Er war nie ganz sicher, ob
Wirklichkeit oder Schein. Der Gepäckträger schaute ihn einen Augenblick groß an, schien plötz-
lich zu verstehen, lächelte, dankte und ging. Er ließ ihn laufen und dachte: es ist wirklich das
goldene Zeitalter, Geld ist Nebensache geworden in der Welt. Als der Wagen vor dem Hotel
ankam, forderte der Kutscher 3,10 Mark. Das fiel ihm als merkwürdige Zahl auf, und er sah das
absichtlich beherrschte Gesicht des Kutschers. Es sollte ein Witz sein. Das Geld hat keine Bedeu-
tung. Es war ihm eine neue Bestätigung. Wenn also wirklich das Geld Nebensache ist, will ich
ihm mal 10 Pfg. geben. Dazu hatte er aber nicht die Courage, sondern zahlte richtig. Vielleicht
ist es doch noch die Wirklichkeit, zweifelte er.
Nun ging er gleich ins Hotel. Er verlangte ein Zimmer mit freiem Blick. Man gab ihm eins mit
mäßiger Aussicht nach hinten. Kurz nachher klopfte es: »Es fällt mir eben ein, wir haben noch
ein besseres Zimmer.« Er sieht es sich an: »Das nehme ich.« Wieder nach kurzer Zeit klopfte es:
Kellner: »Wir haben ein noch besseres Zimmer.« Er sieht es sich wieder an: »Gut, ich nehme dies.«
Das war ihm nun ein sehr merkwürdiges Benehmen. Er dachte: ich muß eben alles noch mensch-
lich sehen; die halten mich zum Narren; ich will mal sehen, was weiter wird. Dann meinte er, er
solle sich waschen: »Vielleicht werd ich dann klarer.« Er bestellte sich ein Bad. Im Badezimmer
war kein Stuhl. Das bestätigte ihm - es war ein sehr gutes Hotel - die jetzige Unwirklichkeit der
Scheinwelt. Nachdem er geordnet gebadet hatte, macht er einen Spaziergang. Es war sogenann-
ter Nelkentag im Kurort. Er lachte über die Scheinnarretei. Aber er dachte: gut, ich stecke auch
eine Nelke an, und kaufte sich eine.
Während dieser Zeit beseelte ihn fortwährend die Idee vom goldenen Zeitalter. Dabei tauchte
ihm jetzt das Bewußtsein auf, daß Schwester, Mutter und andere Angehörige noch am Leben
seien: »Die muß ich erst noch befreien.« Im Zusammenhang damit kam der Gedanke, seine
Schwester habe ihn vergiftet. Sie habe es aus einem edlen Motiv getan; als sie sah, daß er ver-
rückt wurde, und er selbst das dann aussprach, habe sie ihm sein Schicksal ersparen wollen.
Diese und manche anderen Ideen hat er im weiteren Verlaufe der Psychose vergessen, ist nicht
mehr darauf zurückgekommen.
Nun kam er zum Hotel zurück. Beim Eintritt hörte er den Portier einen andern fragen: »Tut er
noch immer Wunder?« Jener antwortete: »Ja, ganz gewaltig.« Der Kranke lachte hell hinaus.
Beim Eintrag seines Namens schrieb er unter Beruf: »Rekonvaleszent«, »um mir unliebsame
Besucher fern zu halten.« Er sei in einer gewissen frivolen Stimmung gewesen und habe solche
Sachen mit Bewußtsein gemacht, jedoch ohne jedes Gefühl, Theater zu spielen. Nach kurzem
kam der Kellner und fragte, ob er Arzt sei (er hatte Dr. M. geschrieben). Er verneinte und fand
auch dies wieder merkwürdig. Eine Kurkarte wurde bestellt, und ferner wurde ihm ein Konzert-
billet verabfolgt. Erstaunt fragte er, ob er denn zwei Karten brauche, Kurkarte und Konzertbil-
let. Es war ihm sofort wahrscheinlich, daß »die Dame« mit ihm sein werde, daher die zwei Bil-
lets. Die Hoteliersfrau aber sah ihn bei dieser Situation mit einem Blick an, dem er den Zweifel
an seiner geistigen Gesundheit anmerkte.
Der Kranke aß nun zu Abend. Die umhersitzenden Personen machten Anspielungen auf ihn,
wußten von seinem Examen. Er trank seinen Wein und saß ruhig und unauffällig da. Nach dem
Essen ging er in das Konzert im Kurgarten. Als er ins Tor getreten war, bezog er die Musik irgend-
wie allgemein auf sich. Gerade im Moment seines Eintretens setzte sie ein. Die Musik, die frü-
her auf ihn gar keine Wirkung ausübte, packte ihn jetzt, erregte ihn bis zur Raserei. Er fühlte,
381 wie sein ganzer Körper in seinen Muskeln mitlebte, wie alle Gefühle, | alles Lachen und Weinen
 
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