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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0486
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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in allen Nuancen in ihm Widerhall fanden. Die Vorgänge entwickelten sich nun in folgender
Weise: Als er, der Musik zuhörend, auf die Terrasse des Kurgartens getreten war, fühlte er den
Zwang, einen ganz bestimmten Weg zu gehen. Er fühlte, daß er genau in die Fußstapfen einer
andern Persönlichkeit trat. »Dabei fühlte ich, ich kann mich dem Zwange entziehen. Aber ich
will den Willen ablehnen, will nachgeben und mich hingeben« (das System des eingewickelten
Kindes trat ihm ins Bewußtsein). Der Zwang wurde stärker, plötzlich blieb er stehen: »Hier muß
ich stehen bleiben.« Der Körper begann nun in seinen Bewegungen der Musik rhythmisch zu
folgen. Dabei blieb der Kopf ganz frei; er beobachtete, daß Leute über ihn lachten, daß jemand,
den er scharf ansah, wegging usw. Die Körperbewegungen kamen automatisch wie von selbst,
und doch wollte er sie. Die Muskeln arbeiteten von selbst, nachdem er sie einmal hatte machen
lassen, was sie taten. Nun hätte er - das fühlte er - sich dem Zwange auch nicht mehr entziehen
können. Er brauchte gar nicht auf seinen Körper zu achten, es ging völlig von selbst. Bei diesen
rhythmischen Bewegungen begleitete ihn ein sehr intensives Erlebnis. Anfangs fühlte er: die
Dame ist noch nicht da. Dann: jetzt könnte sie da sein. - Jetzt spür ich: sie macht die Bewegun-
gen mit. Etwa io Meter hinter mir, mir den Rücken zugedreht, folgte sie jeder kleinsten Bewe-
gung. Er sah sie gar nicht und hatte sie nicht gesehen, aber er wußte es ganz sicher. Diese inten-
sivste Wirklichkeit war überwältigend. Den Sinnen traute er weniger. »Es war evident,« wenn
schon ein Ausdruck aus der Lehre von der normalen Überzeugung genommen werden soll. Er
wußte ganz bestimmt: es war diese Dame. Er wußte, daß sie genau dieselben Bewegungen
machte, obgleich er sie auf keine Weise körperlich fühlte und wahrnahm. Wenn ein blasses Vor-
stellungsbild das Bewußtsein der Gegenwart der Dame begleitete, stellte er sie sich jedenfalls
ohne Besonderheiten in normalen Kleidern vor.
Zum Schluß sprach sich in der Musik wilde Empörung aus. Er fühlte sich aufs Heftigste
gepackt, und dann war Musik und Bewegungszwang zu Ende. Nun faßte er den bewußten Willen
zu normalem Benehmen. In dieser Absicht ging er zu einem Kellner und bestellte sich eine Zigarre.
Doch dauerte es nicht lange, da überkam ihn wieder ein Drang zum Hin- und Hergehen. »Ich
hätte mich noch beherrschen können, aber einmal drin war ich machtlos.« Er merkte, wie er die
Gewalt über sich verlor, rannte den Kellner um, sprang über die Balustrade der Terrasse und
stürzte in den Park mit dem Bewußtsein: die Dame, die eben die Bewegungen mitmachte, ist fort;
ich muß ihr folgen; er hatte das Gefühl, überall dorthin zu gehen, wo sie eben gewesen war; im
Widerspruch dazu kam der Gedanke, er laufe überall eilig die Wege nach, die sie heute morgen
gegangen sei; und der Gedanke, vielleicht sei sie überhaupt nicht mehr da. In andern Momen-
ten fühlte er die Dame wieder als seine eigene andersgeschlechtliche Verdoppelung.
Bei dem rasenden Lauf durch den Park wurde er nun von Kurgästen gepackt. Das ließ er sich gern
gefallen. Er war sich dabei über seine Situation völlig klar und wurde einen Augenblick ruhiger.
In kurzem kam wieder der Drang über ihn. Er schrie: »Obacht, es kommt wieder über mich; pak-
ken Sie mich. Es langt nicht, es langt nicht, noch ein paar her.« Nach etwa einer halben Minute
wurde er wieder ruhig, und das wiederholte sich anfallsweise noch mehrere Male. Immer hatte er
dabei das Gefühl von der Nähe der Dame. Ging eine ganz fremde Dame vorüber, so schrie er ein-
mal: »Das ist sie; soll zum Teufel gehen.« In diesem wie in einem andern Falle sah er genau, daß
es nicht die bestimmte Dame sei, aber er dachte an die Möglichkeit der Verwandlung. Von wei-
tem sah er eine Dame aus dem Wagen steigen. Unmittelbar war ihm klar: »Das ist sie.« Er mußte
in ihrer Nähe sein. Dabei war er gar nicht geschlechtlich erregt, nur nahe sein wollte er. Er meint,
daß vielleicht die mutige Art - fast alle Menschen, merkte er, hatten Angst vor ihm - mit der die
Dame auf ihn zuging, ihm imponierte und an die Seelenidentität mit »der Dame« denken ließ.
 
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