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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0490
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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mel nehmen und darum töten wollen. Nun, wo der Kranke sich als stärker erwies, mußte der Herr-
gott »in ihn einziehen« und des Kranken Stärke noch vermehren. Dann wird der Kranke selbst
den Kampf mit dem Teufel bestehen müssen.
Nun fand zunächst der Einzug Gottes und damit der ganzen übersinnlichen Welt zur Stärkung
seiner Kraft in ihm statt. Er fühlte, wie Gott durch die Füße in ihn drang. Ein Kribbeln ging durch
seine Beine. Seine Mutter zog ein. Alle Genies zogen ein. Einer nach dem andern. Er fühlte bei
jedem in seinem eigenen Gesicht den Ausdruck und erkannte ihn daran. So fühlte er, wie sein
Gesicht den Ausdruck Dostojewskis annahm, dann Bonapartes. Er fühlte gleichzeitig dessen ganze
Energie und Kraft. d’Annunzio,892 Grabbe,893 Plato kamen. Schrittweise wie Soldaten marschierten
sie ein. Wenn die Luft kam, wenn Frauen kamen, wenn die himmlische Liebe kam, ging es milder
zu. Auch abstrakte Begriffe zogen ein: die Geilheit, der Jud, der Narr. Er fühlte Anatole France894
und dabei die Essenz seiner Werke: die Ironie, das Weinen, das Delikate. Eines folgte immer auf das
andere. Was in ihm war, bemerkte er in der Folgezeit nicht jeden Augenblick, »es blieb aber jeder-
zeit erregbar«. Seine Gesichtsmuskulatur fühlte er viel weicher und mannigfaltiger als je. Er besaß
nun die Fähigkeit zu allen Stimmungen. Und er fühlte sich riesenstark. Bei dem Einzug machte er
immer »katatonische Bewegungen«, um den Wesen Platz zu machen und sie einzurichten. Stim-
men halfen z.B.: »jetzt der Ellenbogen«. Zunächst war alles durcheinander, man wechselte die
Plätze, schließlich war eine gewisse Regelmäßigkeit. Sie machten es untereinander aus. Die großen
Männer saßen im Kopf, die Künstler im Gesichtsausdruck, die Krieger in den Armen; im Herzen
nahm die Dame Mona Lisa Platz. Ganz innen im Herzen saßen Stein und Sandkorn. Endlich war
der Einzug fertig. Es wurde geschlossen. Nun gehts los. Er dachte an das Symbol des eingewickel-
ten Kindes: ich darf nicht aktiv sein, ich muß abwarten und liegen bleiben. Das tat er.
Wieder öffnete sich nun die Klappe an der Korridorwand der Zelle. Der Kranke sah den Kopf
des Teufels zu ihm hineinschauen. Er sah ihn leibhaftig. Mit seinen Hörnern, braun und haarig
sah er aus wie ein Faun. Die Augenbrauen waren rot. Der Kranke erschreckte nicht im gering-
sten, denn er wußte: ich schmeiß ihn bestimmt um. Im Gefühl seiner Kraft rief er dem draußen
stehenden Teufel zu: »aufgemacht«. Die Klappe schlug zu. Der Teufel gab sich schon besiegt und
zog nun zu den übrigen in ihn hinein. Seine Kraft wuchs wiederum enorm an. Bei diesem »Sieg«
hatte er das Bewußtsein: nicht nur wegen meiner Kraft, sondern weil ich ihn auch in den Him-
mel heben wollte, gab der Teufel so schnell nach.
Nun hatte der Kranke aber noch den Gedanken: es gibt noch eine Unmasse von Göttern außer
mir. Diese, fühlte er in seiner kolossalen Stärke, werden alle freiwillig in mich einziehen. Er
glaubte, seine Zelle liege an einem riesig langen Gang, an den noch viele andere Zellen stoßen:
in diesen befinden sich die andern Götter: Baal, Buddha, Mohammed usw. Ein Kampf konnte
nötig werden. Doch er wußte, daß nun der Teufel hilft. In diesem Augenblick kam der Wärter
herein, den er für die Form hielt, in der der Teufel kam. Der brachte Mittagessen. Auf die Frage:
soll ich essen? kam die Antwort: ja, ja, daß Sie kräftig werden. Nun | nahm er das Essen mit einer
Riesengier. Den ersten Bissen schluckte er noch, dann wurde nur noch geschlungen. Er fühlte,
die ganze Welt in ihm will ja zu essen haben, alle haben Hunger. Schon merkte er, wie alles in
ihm ißt. In ihm wurde mit rasender Gier alles aufgenommen. Durch den ganzen Körper fühlte
er es. Von innen wurde an seinen Brüsten gezogen. Er kam sich in diesem Zustand vor wie
Buddha, den er glaubt so dargestellt gesehen zu haben. Aber Buddha war noch nicht in ihm.
Der Kampf muß jetzt losgehen. Er schrie: aufgemacht. Sofort hörte er wie mit Beilschlägen eine
der Zellentüren gesprengt wurde. Es kam Buddha. Der Augenblick »Kampf oder Einzug« dau-
erte nicht lange. Buddha zog ein. Das wiederholte sich wohl 2omal: »Aufgemacht«, dann Beil-

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