Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0500
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

457

Einmal - so erzählt er ungern - auf einem Spaziergang im Wald überkam ihn die Phantasiewelt
»König Otto« wieder mit dem Bewußtsein, es sei wirklich: König Otto sein Vater, Frank Wedekind
= König Otto, Frau Wedekind und Mizzi Schaffer und die Dame X. seine Schwestern. Das dauerte
wohl eine Viertelstunde. Im übrigen aber dachte er auch noch manchmal daran und meinte wohl
gelegentlich: »ja beweisen kann mir niemand, daß ich nicht Sohn von König Otto bin.« Schon vor
seiner Krankheit sind ihm Mizzi Schaffer, andere Schauspielerinnen vom Residenztheater, die
Dame X. als Menschen derselben Art mit ihm erschienen. Das sei kein Zweifel. »Ich weiß totsicher,
daß Mizzi Schaffer Interesse für mich hatte.« Er hat sie zwar nie kennen gelernt, und sie kann ihn nur
im Theater öfter gesehen und beobachtet haben. Aber er hat bemerkt, wie sie ihren Mann im Wagen
im Vorbeifahren auf ihn aufmerksam machte; »ein feiner Mann«. Er sah sich um. Und einmal im
Theater saß sie hinter ihm. Er klatschte auffällig laut zu einem Witz und erregte die Aufmerksam-
keit des Publikums. Da machte sie ohne Zweifel eine Bemerkung, die ihn beruhigen sollte. -
Zuweilen hat er Kopfschmerz im Hinterkopf. Niemals Schwindel. Nachts im Bett sieht er
manchmal Blitze, Helligkeitserscheinungen, an der Decke kaleidoskopartige Tapetenmuster in
lebhaften Farben. Es sind mosaikartige, wechselnde Muster, niemals Blumen, Gestalten oder
andere Formen. Manchmal etwas Ohrenklingen. -
Die erste Zeit nach der Krankheit, als er auf ärztliche Anordnung nicht an die Zukunft dachte,
sondern sich ausschließlich der Erholung hingab, ging es ihm am besten. Er meint, | daß er
infolge der Anwesenheit der Mutter wieder an die Zukunft dachte und nun wieder Mißstimmun-
gen bekam. Die Mutter, so meint er, hatte Mißtrauen, er sei noch krank, - daraus schließt er, daß
Mißtrauen allgemein und nicht krankhaft sei -, sie ärgerte ihn durch banale Gespräche. Ihre
Gegenwart war ihm offenbar nicht lieb. Allein fühlt er sich wohl. -
Am 23. Juli bekam der Kranke einen abnormen Zustand, der 3 Tage dauerte. Er begann mit
einem Anfalle früh morgens, der höchstens 12-15 Sekunden dauerte. Es war ein etwas schmerz-
hafter Starrkrampf Er war ganz bewegungslos, konnte die Augen nicht aufmachen. Dabei wurde
es vor den Augen ganz hell, und er sah - bei geschlossenen Augen - in der Ferne eine kleine Jesus-
statuette. Diese bewegte sich. Die Strahlen fielen auf ihn. Er fühlte sich dann scheintot, fühlte
sich ganz vergangen zu einem bloßen mathematischen Punkt. So sah er eine Rauchwolke ent-
stehen, Jesus war verschwunden. Aus der Rauchwolke entstand ein Teufel und plötzlich war alles
weg. Er fühlte sich ganz frei und bewegungsfähig. Während des Anfalls war ergänz klar, bei vol-
lem Bewußtsein und, wie er meint, über seine wirkliche Situation orientiert.
Die nächsten drei Stunden stand er unter dem Eindruck der »transzendentalen Bedeutung«
dieses Erlebnisses. Er fühlte sich sehr matt. Das Erleben war so leibhaftig gewesen, daß er an eine
bloße Täuschung nicht glauben konnte. Er überlegt: der Teufel hat es gemacht. Sofort hörte er
eine Stimme: Du Narr. Er dachte: Nein, Gott hat es gemacht, und sofort hörte er es aus dem Rufen
des Hahns: Kikiriki = du Rindvieh. So dachte er hin und her, und dies Denken wurde in diesen
Tagen zum lagen der Gedanken, zu einem ewig wiederkehrenden Wechsel von ja und nein. Es war
ganz fürchterlich. Die Gedanken überwältigten ihn durch ihre Menge. Es war »ein regressus ad
infinitum«. Er hatte eine wahnsinnige Angst, meinte er würde lieber mit der Titanic901 auf dem
Ozean untergehen, als so das Gefühl zu erleben, gleich werde er verrückt. In der Angst vor dem
Wahnsinn ließ er sich freiwillig in die Klinik aufnehmen, dann war sofort alles vorbei, und er
konnte am nächsten Tage wieder entlassen werden. Die nächsten Wochen ging es ihm gut.
Zur Charakterisierung des Kranken sei noch ein Brief hergesetzt, den er am 4. Juni an mich
schrieb. Er zeigt deutlich hebephrene Züge und den eigenartigen Humor ohne eigentliche
lustige Färbung, den uns der Kranke auch selbst beschrieb:

393
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften