Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0502
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

459

Wir zergliedern unsern Kranken wiederum i. phänomenologisch, 2. nach kausalen
Zusammenhängen (Diagnostik), 3. nach seinen verständlichen Zusammenhängen.
1. Phänomenologie. Der Bewußtseinszustand des Kranken war ein klarer. Er wachte
völlig. Es finden sich keine Merkmale der Bewußtseinstrübung. Weder meint er selbst,
daß er in einer traumhaften Bewußtseinstrübung gewesen sei, noch finden sich die
objektiven Zeichen der Bewußtseinstrübung (herabgesetzte Auffassungsfähigkeit in
der Psychose, Amnesien, zeitlich deutliche Abgrenzung von Bewußtseinstrübung und
Wachzustand). Der Kranke hat eine vorzügliche und detaillierte Erinnerung an alles
Erlebte.
Sein Bewußtseinszustand hätte ihn dauernd völlig orientiert gelassen, wenn nicht
die Masse des bedeutsamen und eindringlichen Erlebens seine Orientierung immer ver-
schoben hätte. Auf diese Weise bestand bei ihm das charakteristische Symptom der dop-
pelten Orientierung. Dieses Symptom besteht entweder darin, daß für den Kranken die-
selben Vorgänge, Wahrnehmungsinhalte, eigenen Handlungen usw. einen doppelten
Sinn haben (z.B. ist der Wärter sowohl Wärter als Teufel), oder bei völligem Entrückt-
sein der Erlebnisse aus der gegenwärtigen Situation und real wahrgenommenen Welt,
in der Fähigkeit, falls etwas Reales eindringlich an den Kranken herantritt, zu sofortigem
richtigen Erfassen der Situation ohne Aufgabe der psychotisch erlebten Welt. Die doppelte
Orientierung unterscheidet sich einmal vom Zweifel, der zwischen zwei Bedeutungen
eines Vorganges hin und her schwankt: der Vorgang hat vielmehr beide Bedeutungen.
Die doppelte Orientierung unterscheidet sich ferner von dem Zusichkommen in leich-
ten Bewußtseinstrübungen mit traumhaften Erlebnissen (z.B. erste Stadien eines Deli-
rium tremens). Dieses Zusichkommen wird wie eine Art Erwachen erlebt, es geht sofort
mit voller Einsicht einher, da es sich bei den Bewußtseinstrübungen dieser Art immer nur
um spärliche unzusammenhängende Erlebnisse handelt, die, sobald der Kranke sich wie-
der wirklich orientiert, auch gar keinen nachwirkenden Erlebniswertmehr haben.
Bleuler hat die doppelte Orientierung als ein typisches schizophrenes Symptom
sowohl bei akuten, wie bei chronischen Zuständen beschrieben'.902 Die chronischen
Kranken haben »in vielen Beziehungen eine doppelte Buchführung. Sie kennen ebenso-
gut die richtigen Verhältnisse, wie die verfälschten, und antworten, je nach den
Umständen, im Sinne der einen oder der anderen Art der Orientierung - oder beides
zugleich.«903 Von den Dämmerzuständen der Schizophrenie, zu denen wohl unser
Kranker gerechnet würde, schreibt Bleuler: »Die doppelte Registrierung der äußeren
Vorkommnisse (im Sinne des Traumes und zugleich in dem der Wirklichkeit) ist auch
in hochgradigen Fällen die Regel.«904
Zu der Art, wie in akuten Zuständen solche doppelte Orientierung erlebt wird, geben
die Selbstschilderungen unseres Kranken einige kennzeichnende Beiträge. Im Beginn
der Psychose erlebte der Kranke beides, die übersinnliche Welt und die reale Welt. Die

395

Bleuler, Schizophrenie, S. 43, 45, 47,180.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften