Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0511
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
468

Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

men war auffällig nach Alkoholgenuß und zuweilen spontan (»simuliert gern den Ver-
rückten«). - Für die einzelnen Phasen oder Schübe können wir schicksalsmäßig auslö-
sende Momente nicht nachweisen.
Unser Kranker besaß von Jugend auf ein mehr als gewöhnliches philosophisches
Interesse, ferner eine überdurchschnittliche Kulturbedürftigkeit, eine feine entwickelte
Eindrucksfähigkeit. Bei solcher Anlage verstehen wir mehr als sonst, daß der Kranke
jedesmal, wenn seine Krankheit Fortschritte machte, sich dem philosophischen Stu-
dium mit Leidenschaft hingab. Es ist generell eine Eigentümlichkeit dieser Prozesse,
daß die Befallenen sich besonders im Beginn tiefsten Problemen, Weltanschauungs-
und religiösen Fragen hingeben. Bei der besonderen Veranlagung mußte dieser Zug
bei unserem Kranken stark hervortreten. Wir werden diesen Zusammenhang im näch-
sten Abschnitt besser zu verstehen suchen, ebenso wie den weiteren, daß beim Kran-
ken die Philosophie zum qualvollen Erleben der Skepsis führte. Wir sind also der
Ansicht, daß philosophisches Studium und besonders die Skepsis Folge und Äußerung
der durch den Prozeß gesetzten seelischen Veränderung sind.
Als eine damit zusammenhängende Folge des Prozesses ist seine Berufsunfähigkeit
aufzufassen. Diese im Zusammenhang mit dem philosophischen Fiasko bildete den
Hauptinhalt seines Leidens in dem letzten Jahr vor der akuten Psychose: ein bis zu
einem gewissen Grade in sich verständliches Schicksal, das als Ganzes durch den Pro-
zeß selbst verursacht ist.
Drei Monate vor der Psychose trat eine gewisse Umwandlung mit ihm ein infolge
des Eindrucks einer Dame, deren persönliche Bekanntschaft er allerdings nicht machte.
Doch alles blieb im großen und ganzen beim Alten, bis zu dem Zeitpunkt, einen Monat
vor der Psychose, als der Examensmißerfolg eintrat'. Von diesem Termin an wurde er
wesentlich kränker, fiel jetzt allen auch als krank auf, entwickelte in den nächsten
Wochen wahnhafte Ideen, deren verständlicher Zusammenhang mit diesem Mißer-
folg unverkennbar ist. Nach weiteren Verstimmungen durch Szenen mit den Eltern
403 wegen der Berufswahl, | durch Fragen anderer nach seinem Beruf, brach nach einer
Zeit von etwa 4 Wochen die akute Psychose aus, der 2 Tage vorher noch ein gänzlich
unverhofftes und einen tiefen Eindruck hervorrufendes Wiedersehen der Dame vorher-
gegangen war.
Auf Grund dieser kurz resümierten Daten sind wir der Ansicht, daß es sich um eine
reaktive Psychose handelt. Der Prozeß hat die Disposition geschaffen, die eine solche
merkwürdige Reaktion auf ein schweres Schicksal überhaupt erst ermöglicht. Der Pro-
zeß hat daneben die seelische Veränderung verursacht, die das philosophische Fiasko in

Er sowohl wie seine Umgebung hatten eine I erwartet und waren von der schlechten II sehr ent-
täuscht und überrascht. Außerdem war die schlechte Note bei der Anstellung im Staatsdienst eine
Hemmung. Er hatte nun die Aussicht, sehr lange warten zu müssen, vielleicht niemals angestellt
zu werden.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften