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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0514
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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Als der Kranke vor 2V1 Jahren seine philosophischen Studien von neuem begann,
erlebte er fast dasselbe noch einmal. Offenbar getrieben vom Drang zum »System«,
von metaphysischem Bedürfnis, vom Trieb zur Weltanschauung, zum Weltbild, zum
Erfassen des Ganzen, zu »philosophischer Klarheit«, wendet der Kranke sich doch
zunehmend (vgl. Krankengeschichte S. 435) von den Weltanschauungsphilosophen
ab und den bloßen Logikern zu, den nur rein wissenschaftlichen Philosophen, die sei-
nem kritischen Intellekt entgegenkommen, nicht aber seinem Bedürfnis zum System.
So wird ihm Husserl der Höhepunkt. Als nun seine Fähigkeit, ein »System« zu bilden,
versagt, und er auch noch meint, bei Husserl Widersprüche und Fehler zu finden, lag
die Entwicklung zu gänzlicher Verzweiflung, zum Skeptizismus, nahe.
Doch war diese Entwicklung nur scheinbar. Der Skeptizismus war von vornherein der
adäquate Ausdruck seiner Eebensstimmung. Er hatte auf der einen Seite den Trieb zur
Weltanschauung, hielt sich aus Unfähigkeit zum Stellungnehmen an rein intellektuelle, ratio-
nale Methoden, klammerte sich gleichsam an diese bis zum Äußersten, studierte den emi-
nent schwierigen Husserl, - dessen Inhalte seinen Bedürfnissen auch keine Spur entge-
genkamen, - weil er hier die größte Sicherheit, die größte kritische Schärfe fand, bis er hier
endgültig auch das intellektuelle Fiasko erlebte. Schon vorher hatte er gefühlt, daß er nichts
endgültig für wahr halten konnte, daß er nicht bloß in der Wissenschaft, sondern auch in
der Lebensführung und der Kunst gegenüber keiner zuverlässigen Stellungnahme fähig war.
Er besaß gewissermaßen die Werkzeuge (kritische Intelligenz, Eindrucksfähigkeit, Ein-
fühlungsfähigkeit usw.), aber er war unfähig, das Willensmäßige in allem Stellungneh-
men mit regelmäßigem Bewußtsein der Sicherheit zu erleben. Besonders zwei Punkte pflegte
er in philosophischen Gesprächen zu betonen, die auf intellektuellem Gebiete immer das
Ende seiner Denkarbeit wurden. Er hatte in Kants Dialektik die unendlichen Regressus ken-
nen gelernt, die Unendlichkeit der Kausalketten, in denen wir empirisch nie zum Unbe-
dingten, zum Letzten kommen. Und bei allen logischen Erwägungen fand er größere oder
kleinere Zirkel, durch deren Erkenntnis ihm die Gebäude zusammenfielen. Unendliche
Regressus und Zirkel fand er überall, und niemals fand er die Fähigkeit, in der Unendlich-
keit des fließenden Regressus willkürlich einen Pfahl einzuschlagen, an dem er sich zu
wirklichen Untersuchungen im einzelnen halten könnte, oder eine selbstverständliche
Voraussetzung mit voller Einsichtigkeit hinzunehmen, wodurch der Zirkel erledigt wäre.
Als völlige Unsicherheit in der Stellungnahme blieb dem Kranken der Skeptizismus auch
gegenüber seinen Wahnbildungen, denen er nicht mit voller Einsicht, aber eben mit die-
sem zweifelnden qualvollen Schwanken gegenüberstand.
Um die psychologische Eigenart der skeptischen Haltung unseres Kranken möglichst
deutlich zu kennzeichnen, vergleichen wir sie mit den sonst vorkommenden psycholo-
gischen Formen des Skeptizismus1. Die häufigste Form, in der | uns der Skeptizismus begeg- 406

Daß der Skeptizismus als theoretisches Gedankengebilde an sich noch nichts Bestimmtes über die
psychologische Quelle, aus der er entspringt, sagt, ist wohl selbstverständlich. Der theoretische
 
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