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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0516
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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desten Menschen. Gerade das Gegenteil dieses Menschentypus bildet unser Kranker:
ewiges Schwanken statt vereinheitlichender Zweifel, ewige Unsicherheit statt prakti-
schen Stellungnehmens, ewiges Zerstören statt lebendigen Schaffens. Es fehlt die Ver-
einheitlichung, seine Seele wird durch ein dauerndes Für und Wider, Motive und
Gegenmotive auseinandergerissen. Dies ewige Für und | Wider, das ins Unendliche 407
geht, ist ihm auf den Höhepunkten seiner kranken Zustände so unerträglich, daß er
glaubt, verrückt zu werden und lieber auf dem Ozean untergehen und sterben, als sol-
chen Verlust seines Selbst erleben will.
Diese Skepsis, die nicht eine skeptische Geisteshaltung gegenüber den Dingen bei inne-
rer Einheit, sondern eine innere skeptische Zerrissenheit ist, kommt in geringeren Graden
nicht selten aus angeborener Anlage vor - natürlich immer nur bei den differenzierte-
ren, begabteren Menschen, deren Seelenleben überhaupt in philosophischen Gebil-
den Ausdruck finden kann. Diese innerlich zerrissenen, skeptisch erlebenden Menschen
ähneln in vieler Beziehung unserem Kranken. Was wird daraus? Bei der angeborenen
Anlage in der Minderzahl der Fälle ein quälendes, aber ehrliches heben, in dem die nie-
deren Stufen jener gesunden skeptischen Geisteshaltung erreicht werden, ein schwa-
ches heben, das aber in dieser Schwäche die möglichen Stufen der Gesundheit
erklimmt. In der Mehrzahl der Fälle aber schafft der Mensch sich äußerlich, was er
innerlich nicht besitzt. Er gewinnt etwa ein philosophisches System', dem er mit wahn-
haftem Fanatismus anhängt, woran er sich als etwas Greifbarem klammert, das ihm
wie ein Rezept Sicherheit überall gibt, wo er sie im heben braucht - allerdings immer
erst nachdem er den Fall in langem Überlegen in sein Schema eingepreßt hat. Gleich-
zeitig suchen solche Menschen ihr System mit Fanatismus anderen aufzuzwingen, sie
erstreben Macht und Geltung damit. Diese Macht und Geltung bietet ihnen einen
äußerlichen Ersatz für ihre nun vergessene innere Schwäche. Diese Menschen werden
mit ihrem System manchmal plötzlich glücklich, nachdem sie bis dahin die unglück-
seligsten, zerrissensten Wesen waren. Da aber das System ein künstliches Gebilde ist,
nicht den Quell in ihrem innersten Erleben hat, nicht Ausdruck einer entsprechenden
seelischen Einheit ist, so kommt doch alle Unsicherheit, alles Preisgegebensein an
momentane Impulse und Triebe wieder in der Eebensführung zum Ausdruck. Unsi-
cherheit, Unzuverlässigkeit, Unehrlichkeit auf der einen Seite, keine ruhige, sondern
immer fanatische Überzeugung auf der anderen Seite, das gehört psychologisch not-
wendig zusammen.
Etwas mit dieser »normalen« Entwicklung Vergleichbares geschieht nun auch bei
den allermeisten Prozessen. Auf die Zeit der qualvollen Unsicherheit folgt die Zeit einer
gewissen Zufriedenheit mit dem Wahn. Der Wahn nimmt bei Begabteren dann auch

Ein System ist wohl zu unterscheiden von systematischer Arbeit. Ersteres ist wissenschaftlich un-
möglich, da es eine in der Unendlichkeit liegende Aufgabe ist - daher vorkommenden Falles wahn-
haft. Letztere ist Grundbedingung wissenschaftlicher Forschung.
 
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