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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0521
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

herrliche Tasche?« Dieses Symbol sexueller Bedeutung im engeren Sinne steht ziem-
lich allein da. Man kann nicht sagen, daß Sexualität in elementarer Form außer in den
wenigen Fällen, wo sie als solche deutlich ist, in der Psychose des Kranken eine große
Rolle spielt. Ein Verstehen der kosmischen Erlebnisse insbesondere als sexueller Sym-
bole, in Analogie zu Jungschen Arbeiten, kann uns nicht im geringsten überzeugen.
Wir halten an der ursprünglichen Qualität psychischer Erlebnisse und Triebregungen
fest und kennen nicht nur die sexuellen als die einzig ursprünglichen. Bei unserem
Kranken ist Weltanschauung ihrer selbst wegen u.E. unzweifelbar. Dabei spielt Sexua-
lität auch nicht die geringste Rolle.
Nach Ablauf der akuten Psychose befand sich der Kranke in einem besonders heite-
ren Zustand. Man hatte auch hier wieder den Eindruck gleichsam einer Entladung, die
die Psychose mit sich gebracht hatte. Sein Bruder fand den Kranken so wohl, wie er
ihn seit zwei Jahren nicht gesehen habe. Nach einiger Zeit kehrten aber die alten Kom-
plexe (Beruf, Verzweiflung an Lebensaufgabe, philosophischen und literarischen
Fähigkeiten) von neuem zurück, und der Kranke befand sich in dem Zustand, den man
etwa vor der Zeit des Examensmißerfolges annehmen kann.
Wir können aus unseren zwei Fällen keine generellen Schlüsse ziehen. Was wir
beabsichtigen ist, zu betonen, daß nur eine Materialsammlung geeigneter Fälle mit ein-
412 geltendster Krankengeschichte für die verstehende Psychopathologie | Förderung brin-
gen kann, ferner zu zeigen, daß hier methodische Klarheit, Sonderung der Gesichtspunkte
und begriffliche Tätigkeit besonders notwendig sind. In beiden Richtungen suchten
wir einen Beitrag zu leisten.
Im übrigen glaubten wir Bleulers Übertragung des Begriffs der Reaktivität auf die
Schizophrenie als zu Recht bestehend anerkennen zu müssen, eine Auffassung, die,
aus dem Eindruck an einer größeren Reihe weniger differenzierter Fälle gewonnen, mit
unsern beiden Krankengeschichten illustriert wird.
Die Kraepelinsche Schule und weitere Kreise der Psychiatrie verbinden meist mit
dem Begriff der reaktiven Psychose den Begriff des »Degenerativen«.237 Sie gebrauchen
das Wort in diagnostischem Sinn. Bleulers Auffassung bedeutet eine Erweiterung unse-
res psychologischen Verstehens, die im Prinzip ebenso berechtigt ist, wie die frühere
Erweiterung aus der Normalpsychologie auf die degenerativen Haftpsychosen.
Reaktivität in diesem Sinne scheint man nun aber nicht etwa bei allen Psychosen
zu finden. Die organischen Demenzprozesse lassen uns nur eine ganz momentane Reak-
tivität, wie sie allem Lebendigem eigen sein muß, nicht eine Beziehung von Schicksal und
Psychose erkennen. Auch in vielen Fällen der Gruppe der Dementia praecox (bei den
schweren, organisch anmutenden Katatonien im engeren Sinne) vermochten wir sol-
che seelische Reaktivität nicht zu erkennen (die Züricher Schule glaubt sie jedoch über-
all in dieser Krankheitsgruppe zu finden). Es scheint eine tiefe Kluft zwischen denje-
nigen Geisteskrankheiten zu liegen, die durchgehende verständliche seelische
Zusammenhänge trotz aller Verrücktheit und Umwälzung erkennen lassen, und solchen
 
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