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Über leibhaftige Bewußtheiten
des Zimmers. Ich sehe ihn nicht, ich höre ihn nicht. Doch taucht von Zeit zu Zeit die
Bewußtheit auf, daß er hinter mir im Zimmer sitzt. Es bleibt meist bei diesen Bewußt-
heiten, es kommt aber auch wohl vor, daß ich mir ihn sinnlich vorstelle, also anschau-
lich an ihn denke. Ein anderer Fall: Ich gehe in völliger Dunkelheit durch die Zimmer.
414 Plötzlich wird mir bewußt, | daß nahe vor mir eine Wand ist, ich weiche zurück, um
mich nicht zu stoßen. Woher mir die Bewußtheit kommt, weiß ich nicht. Sie bestätigt
sich als richtig oder kann auch falsch gewesen sein1.
In den geschilderten Fällen haben wir die Bewußtheit von der leibhaftigen Gegen-
wart eines Objektes. Ganz anders ist es in dem Falle des Eesens, in dem die mit den
Worten gemeinten Gegenstände als abwesende (Glocke) oder als ganz unräumliche
allgemeine Gegenstände (Tugend) unanschaulich gewußt sind. Innerhalb der von der
neueren Psychologie als Bewußtheiten bezeichneten Tatbestände machen wir hiermit
einen für uns wichtigen Unterschied. Es gibt erstens leibha ftige Bewußtheiten, in denen
wir von der Gegenwart eines Dinges oder eines Menschen wissen, ohne ihn leibhaftig
wahrzunehmen. Diese Bewußtheiten sind augenblicklich zur vollen leibhaftigen Wahr-
nehmung zu bringen. Zweitens gibt es gedankliche Bewußtheiten, in denen wir um nicht
Gegenwärtiges oder völlig Unräumliches wissen. Diese Bewußtheiten können wir zu
anschaulichen Vorstellungen bringen.
Sehr deutlich finden wir diesen Unterschied z.B. auch in den Traumbeobachtungen
Hackers“.921 Hacker konnte mit Sicherheit konstatieren, daß er im Traum oft ein Wis-
sen um etwas, die Bewußtheit einer Tatsache erlebte, ohne daß diese selbst durch
anschauliche Elemente vertreten gewesen wäre. Von den Beispielen, die er anführt, ver-
anschaulicht das eine eine leibhaftige, das folgende Beispiel eine gedankliche Bewußtheit:
»Ich war in einem Zimmer und las in einem Buch, dabei hatte ich die Bewußtheit, daß zwei
mir bekannte Mädchen da waren und mir zusahen, und doch kamen diese in meinem Traume
nicht vor. - Ich hatte von den Mädchen selbst gar keine Vorstellung, d.h. in der Erinnerung
konnte ich nicht feststellen, daß ich sie mir irgendwie vorgestellt hatte, aber doch wußte ich
ganz unmittelbar, daß sie da seien und wer sie seien.«922 (LeibhaftigeBewußtheit.)
»Ich war in einer Stadt, in der eine blutige Revolution ausgebrochen war. Ich sagte daher zu
meinen Geschwistern, die mit mir waren: Nur ein Mann kann die Revolution niederwerfen, die
Flucht ist deshalb das beste, denn man weiß nie, wie der Pöbel gesinnt ist. - Bei diesen Worten,
auf welche kurz darauf das Erwachen folgte, dachte ich an sehr vielerlei. Nicht nur an die fran-
zösische Revolution und Napoleon, sondern auch an die Gestalt des Brutus in Shakespeares
Julius Cäsar923 und alles, was damit zusammenhängt.« (GedanklicheBewußtheiten.)924
i Wir haben es hier zunächst nur mit dem psychischen Tatbestand zu tun, mit der Weise, wie uns
ein Gegenstand gegeben ist, nicht mit der Frage nach der Genese dieser Bewußtheit. Daß diese im
ersteren Falle durch vorhergehende Wahrnehmung, im zweiten Falle durch gewisse unbemerkte
Empfindungen (wenn schwere Teppiche gelegt und ein Tuch um die Stirn gebunden wird, tritt die
Bewußtheit der Wand nicht auf) veranlaßt ist, tut hier nichts zur Sache.
ü Hacker, Systematische Traumbeobachtungen mit besonderer Berücksichtigung der Gedanken,
Arch. f. d. ges. Psychol., Bd., 21, S. 37,38.
Über leibhaftige Bewußtheiten
des Zimmers. Ich sehe ihn nicht, ich höre ihn nicht. Doch taucht von Zeit zu Zeit die
Bewußtheit auf, daß er hinter mir im Zimmer sitzt. Es bleibt meist bei diesen Bewußt-
heiten, es kommt aber auch wohl vor, daß ich mir ihn sinnlich vorstelle, also anschau-
lich an ihn denke. Ein anderer Fall: Ich gehe in völliger Dunkelheit durch die Zimmer.
414 Plötzlich wird mir bewußt, | daß nahe vor mir eine Wand ist, ich weiche zurück, um
mich nicht zu stoßen. Woher mir die Bewußtheit kommt, weiß ich nicht. Sie bestätigt
sich als richtig oder kann auch falsch gewesen sein1.
In den geschilderten Fällen haben wir die Bewußtheit von der leibhaftigen Gegen-
wart eines Objektes. Ganz anders ist es in dem Falle des Eesens, in dem die mit den
Worten gemeinten Gegenstände als abwesende (Glocke) oder als ganz unräumliche
allgemeine Gegenstände (Tugend) unanschaulich gewußt sind. Innerhalb der von der
neueren Psychologie als Bewußtheiten bezeichneten Tatbestände machen wir hiermit
einen für uns wichtigen Unterschied. Es gibt erstens leibha ftige Bewußtheiten, in denen
wir von der Gegenwart eines Dinges oder eines Menschen wissen, ohne ihn leibhaftig
wahrzunehmen. Diese Bewußtheiten sind augenblicklich zur vollen leibhaftigen Wahr-
nehmung zu bringen. Zweitens gibt es gedankliche Bewußtheiten, in denen wir um nicht
Gegenwärtiges oder völlig Unräumliches wissen. Diese Bewußtheiten können wir zu
anschaulichen Vorstellungen bringen.
Sehr deutlich finden wir diesen Unterschied z.B. auch in den Traumbeobachtungen
Hackers“.921 Hacker konnte mit Sicherheit konstatieren, daß er im Traum oft ein Wis-
sen um etwas, die Bewußtheit einer Tatsache erlebte, ohne daß diese selbst durch
anschauliche Elemente vertreten gewesen wäre. Von den Beispielen, die er anführt, ver-
anschaulicht das eine eine leibhaftige, das folgende Beispiel eine gedankliche Bewußtheit:
»Ich war in einem Zimmer und las in einem Buch, dabei hatte ich die Bewußtheit, daß zwei
mir bekannte Mädchen da waren und mir zusahen, und doch kamen diese in meinem Traume
nicht vor. - Ich hatte von den Mädchen selbst gar keine Vorstellung, d.h. in der Erinnerung
konnte ich nicht feststellen, daß ich sie mir irgendwie vorgestellt hatte, aber doch wußte ich
ganz unmittelbar, daß sie da seien und wer sie seien.«922 (LeibhaftigeBewußtheit.)
»Ich war in einer Stadt, in der eine blutige Revolution ausgebrochen war. Ich sagte daher zu
meinen Geschwistern, die mit mir waren: Nur ein Mann kann die Revolution niederwerfen, die
Flucht ist deshalb das beste, denn man weiß nie, wie der Pöbel gesinnt ist. - Bei diesen Worten,
auf welche kurz darauf das Erwachen folgte, dachte ich an sehr vielerlei. Nicht nur an die fran-
zösische Revolution und Napoleon, sondern auch an die Gestalt des Brutus in Shakespeares
Julius Cäsar923 und alles, was damit zusammenhängt.« (GedanklicheBewußtheiten.)924
i Wir haben es hier zunächst nur mit dem psychischen Tatbestand zu tun, mit der Weise, wie uns
ein Gegenstand gegeben ist, nicht mit der Frage nach der Genese dieser Bewußtheit. Daß diese im
ersteren Falle durch vorhergehende Wahrnehmung, im zweiten Falle durch gewisse unbemerkte
Empfindungen (wenn schwere Teppiche gelegt und ein Tuch um die Stirn gebunden wird, tritt die
Bewußtheit der Wand nicht auf) veranlaßt ist, tut hier nichts zur Sache.
ü Hacker, Systematische Traumbeobachtungen mit besonderer Berücksichtigung der Gedanken,
Arch. f. d. ges. Psychol., Bd., 21, S. 37,38.