Über leibhaftige Bewußtheiten
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Solche zunächst unbestimmte Ahnungen, bei vielen ein bestimmteres Wissen von
der anderen Bedeutung eines realen Vorganges, plötzliche Einfälle (ich bin der Sohn
des Königs Ludwig) u.a., sind die ursprünglichen Wahnerlebnisse, die dann in den Urtei-
len der Wahnideen ihre erstarrte Form gewonnen haben, in der sie uns in der Diskus-
sion mit den Kranken begegnen. In allen diesen Fällen von Wahnerlebnissen handelt
es sich nicht um leibhaftig gegenwärtige Dinge, Personen, Vorgänge, sondern um
gedanklich ergriffene, irgendwo anders geschehende Dinge, um andere Bedeutungen,
ohne daß die wirkliche Umgebung durch neue Gegenstände vermehrt würde. Wie wir
anfangs im normalen Leben den leibhaftigen Bewußtheiten die gedanklichen Bewußt-
heiten entgegenstellten, so können wir hier im Bereich der täuschenden Bewußthei-
ten die leibhaftigen Bewußtheitstäuschungen den Wahnbewußtheiten gegenüberstellen.
Letztere beziehen sich nicht auf neugeschaffene, leibhaftig umgebende Dinge, son-
dern auf Abwesendes oder bloße Bedeutungen.
Was die leibhaftigen Bewußtheitstäuschungen und die Wahnbewußtheiten von
den normalen leibhaftigen Bewußtheiten und gedanklichen Bewußtheiten unter-
scheidet, ist, daß den normalen Phänomenen das Bewußtsein der Realität des Inhal-
tes sekundär auf Grund einer früheren Wahrnehmung oder früherer Urteile, während
dies Bewußtsein der Realität den Inhalten der pathologischen Phänomene primär, in
durchaus unverständlicher, nur durch Wirkung des Krankheitsprozesses erklärbarer-
weise zukommt.
Sehen wir uns in der Literatur um nach früheren Beschreibungen von Phänome-
nen, die unseren leibhaftigen Bewußtheiten entsprechen, so finden wir nur eine, aller-
dings schon recht klare Schilderung bei James*935 über eine besondere | Art von Hallu-
zinationen. Die Halluzinationen »gelangen häufig nur zu teilweiser Entfaltung. Die
betreffende Person hat dann etwa eine Erscheinung an einem bestimmten Ort und in
bestimmter Form als real im strengsten Sinne des Wortes: sie kommt oft plötzlich und
verschwindet plötzlich; aber sie ist nicht auf die gewöhnliche Art mit den Sinnen zu erfas-
sen, weder zu sehen, noch zu hören, noch zu fühlen«.936 Die Beispiele, die James aus ver-
schiedenen Selbstschilderungen - die meist zu religiösen Zwecken gemacht wurden -
anführt, sind zum Teil sehr gut. Die besten geben wir hier wieder:
Ich »dachte noch an die Erfahrungen der letzten Nacht, als ich plötzlich etwas ins
Zimmer kommen und dicht an mein Bett treten fühlte. Es blieb nur 1-2 Minuten. Ich
erfaßte es nicht mit den Sinnen, und doch war ein Gefühl des Grauens damit verbun-
den. Mehr als jede andere Empfindung erregte es mein tiefstes Innere. Ich empfand
einen heftigen krampfartigen Schmerz, der sich über die Brust verbreitete, aber inner-
halb des Organismus war - und doch war das Gefühl nicht sowohl Schmerz als Entset-
zen. Auf jeden Fall war etwas in meiner Nähe, und ich empfand seine Gegenwart mit grö-
ßerer Deutlichkeit, als ich je die Gegenwart irgendeines Geschöpfes aus Fleisch und Blut
419
Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Deutsch, Leipzig, 1907, S. 54 ff.
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Solche zunächst unbestimmte Ahnungen, bei vielen ein bestimmteres Wissen von
der anderen Bedeutung eines realen Vorganges, plötzliche Einfälle (ich bin der Sohn
des Königs Ludwig) u.a., sind die ursprünglichen Wahnerlebnisse, die dann in den Urtei-
len der Wahnideen ihre erstarrte Form gewonnen haben, in der sie uns in der Diskus-
sion mit den Kranken begegnen. In allen diesen Fällen von Wahnerlebnissen handelt
es sich nicht um leibhaftig gegenwärtige Dinge, Personen, Vorgänge, sondern um
gedanklich ergriffene, irgendwo anders geschehende Dinge, um andere Bedeutungen,
ohne daß die wirkliche Umgebung durch neue Gegenstände vermehrt würde. Wie wir
anfangs im normalen Leben den leibhaftigen Bewußtheiten die gedanklichen Bewußt-
heiten entgegenstellten, so können wir hier im Bereich der täuschenden Bewußthei-
ten die leibhaftigen Bewußtheitstäuschungen den Wahnbewußtheiten gegenüberstellen.
Letztere beziehen sich nicht auf neugeschaffene, leibhaftig umgebende Dinge, son-
dern auf Abwesendes oder bloße Bedeutungen.
Was die leibhaftigen Bewußtheitstäuschungen und die Wahnbewußtheiten von
den normalen leibhaftigen Bewußtheiten und gedanklichen Bewußtheiten unter-
scheidet, ist, daß den normalen Phänomenen das Bewußtsein der Realität des Inhal-
tes sekundär auf Grund einer früheren Wahrnehmung oder früherer Urteile, während
dies Bewußtsein der Realität den Inhalten der pathologischen Phänomene primär, in
durchaus unverständlicher, nur durch Wirkung des Krankheitsprozesses erklärbarer-
weise zukommt.
Sehen wir uns in der Literatur um nach früheren Beschreibungen von Phänome-
nen, die unseren leibhaftigen Bewußtheiten entsprechen, so finden wir nur eine, aller-
dings schon recht klare Schilderung bei James*935 über eine besondere | Art von Hallu-
zinationen. Die Halluzinationen »gelangen häufig nur zu teilweiser Entfaltung. Die
betreffende Person hat dann etwa eine Erscheinung an einem bestimmten Ort und in
bestimmter Form als real im strengsten Sinne des Wortes: sie kommt oft plötzlich und
verschwindet plötzlich; aber sie ist nicht auf die gewöhnliche Art mit den Sinnen zu erfas-
sen, weder zu sehen, noch zu hören, noch zu fühlen«.936 Die Beispiele, die James aus ver-
schiedenen Selbstschilderungen - die meist zu religiösen Zwecken gemacht wurden -
anführt, sind zum Teil sehr gut. Die besten geben wir hier wieder:
Ich »dachte noch an die Erfahrungen der letzten Nacht, als ich plötzlich etwas ins
Zimmer kommen und dicht an mein Bett treten fühlte. Es blieb nur 1-2 Minuten. Ich
erfaßte es nicht mit den Sinnen, und doch war ein Gefühl des Grauens damit verbun-
den. Mehr als jede andere Empfindung erregte es mein tiefstes Innere. Ich empfand
einen heftigen krampfartigen Schmerz, der sich über die Brust verbreitete, aber inner-
halb des Organismus war - und doch war das Gefühl nicht sowohl Schmerz als Entset-
zen. Auf jeden Fall war etwas in meiner Nähe, und ich empfand seine Gegenwart mit grö-
ßerer Deutlichkeit, als ich je die Gegenwart irgendeines Geschöpfes aus Fleisch und Blut
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Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Deutsch, Leipzig, 1907, S. 54 ff.