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Stellenkommentar
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Der Begriff >Lypemanie< wurde von dem französischen Psychiater Jean-Etienne Dominique
Esquirol (1772-1840) als Synonym für Melancholie eingeführt.
In den Briefen des Marcus Tullius Cicero (106-43 v.Chr.) an seine Frau Terentia, seinen Bru-
der Quintus und seinen Freund Atticus kommen die Trauer und der Wunsch einer Rückbe-
rufung nach Rom immer wieder zum Ausdruck.
Bei Meyer heißt es: »Der Jammer des Exilierten, dem der Sieg einer feindlichen Partei das
Vaterland geraubt, die Trauerlieder eines Ovid, selbst die kläglichen Episteln Ciceros aus der
Verbannung haben nichts gemein mit der betäubenden Hilflosigkeit eines Nostalgischen.
Wir haben schon oben die Lächerlichkeit berührt, das Heimweh als die Sehnsucht eines zar-
ten Gemüts nach der erhabenen Szenerie und dem idyllischen Leben einer heimatlichen
Landschaft aufzufassen. Der beschränkte Bildungsgrad und die meist träge Natur der an Nos-
talgie Leidenden eignet sich am wenigsten für eine derartige ästhetische Auffassung. Nimmt
die Poesie demnach das Heimweh in diesem Sinne zum Vorwurf ihrer Darstellungen, so ent-
sprechen die Empfindungen, welche jene Vorstellungen erwecken, am allerwenigsten den
Empfindungen des Heimwehs. [...] Das Heimweh ist eine passive asthenische Geisteskrank-
heit von vorne herein, ihre Symptome sind Symptome eines individuellen Mangels, sind
Schwächesymptome [...]. Es scheint in seiner ersten Entfaltung mehr die Reaktion des Gemü-
tes gegen die Hilflosigkeit einer schwachen und seiner gewöhnlichen Stütze beraubten Intel-
ligenz zu sein« (Meyer: »Wahnsinn«, 8).
Ebd., 7. - Testimonium paupertatis = Armutszeugnis.
Ebd., 21. Bei Meyer: »So wenig ihr Geschmack den Widerwillen gegen eine fremde Speise
überwinden kann, [...] so wenig ist ihr Gehirn imstande, die große Menge fremdartiger
Objekte zu bewältigen«.
Esquirol schreibt: »La nostalgie porte au suicide« (Das Heimweh führt zum Selbstmord). Vgl.
J.-E. Esquirol: Des maladies mentales considerees sous les rapports medical, hygienique etmedico-
legal, Bd. 1, Paris 1838, 546.
Vgl. L. Buzorini: Grundzüge einer Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, mit kriti-
schem Rückblick auf die bisher bestandenen Lehren, Stuttgart, Tübingen 1832,163.
Vgl. F. Bird: Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten: zum Gebrauche für practische
Aerzte, Berlin 1836,255.
Vgl. J. Guislain: Klinische Vorträge über Geistes-Krankheiten, dt. von H. Laehr, Berlin 1854, 62.
Vgl. H. Schüle: Handbuch der Geisteskrankheiten, zweite, unveränderte Aufl., Leipzig 1880,257.
Wilhelm Griesinger (1817-1868) gilt als Begründer der wissenschaftlichen Psychiatrie in
Deutschland. Bevor er 1865 den ersten Lehrstuhl für Psychiatrie im deutschen Sprachraum
bekleidete, war er Professor für Innere Medizin. Griesinger bestimmte die Entwicklung der
deutschen Psychiatrie als Wissenschaft und Praxis maßgeblich mit. U.a. forderte er eine
engere Verbindung zwischen Forschung und Lehre und entwickelte einen Reformplan der
psychiatrischen Versorgung. Die psychiatrischen Universitätskliniken gehen wesentlich auf
seine Idee des >Stadt-Asyls< zurück. 1867 erschien auf seine Initiative hin das erste Heft des
Archivs für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, das über ein Jahrhundert die wissenschaftlich
führende Psychiatrie-Zeitschrift in deutscher Sprache werden sollte. Sein vielseitiger Ansatz
wird jedoch oft auf die Formel »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten« - die übrigens
in dieser Form in seinen Schriften nie vorkommt - reduziert. Zu dieser verkürzten und undif-
ferenzierten Rezeption von Griesingers Psychiatrieverständnis dürfte Jaspers durch seine
wiederholte Stellungnahme zu Griesingers »Dogma« nicht unwesentlich beigetragen haben
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Der Begriff >Lypemanie< wurde von dem französischen Psychiater Jean-Etienne Dominique
Esquirol (1772-1840) als Synonym für Melancholie eingeführt.
In den Briefen des Marcus Tullius Cicero (106-43 v.Chr.) an seine Frau Terentia, seinen Bru-
der Quintus und seinen Freund Atticus kommen die Trauer und der Wunsch einer Rückbe-
rufung nach Rom immer wieder zum Ausdruck.
Bei Meyer heißt es: »Der Jammer des Exilierten, dem der Sieg einer feindlichen Partei das
Vaterland geraubt, die Trauerlieder eines Ovid, selbst die kläglichen Episteln Ciceros aus der
Verbannung haben nichts gemein mit der betäubenden Hilflosigkeit eines Nostalgischen.
Wir haben schon oben die Lächerlichkeit berührt, das Heimweh als die Sehnsucht eines zar-
ten Gemüts nach der erhabenen Szenerie und dem idyllischen Leben einer heimatlichen
Landschaft aufzufassen. Der beschränkte Bildungsgrad und die meist träge Natur der an Nos-
talgie Leidenden eignet sich am wenigsten für eine derartige ästhetische Auffassung. Nimmt
die Poesie demnach das Heimweh in diesem Sinne zum Vorwurf ihrer Darstellungen, so ent-
sprechen die Empfindungen, welche jene Vorstellungen erwecken, am allerwenigsten den
Empfindungen des Heimwehs. [...] Das Heimweh ist eine passive asthenische Geisteskrank-
heit von vorne herein, ihre Symptome sind Symptome eines individuellen Mangels, sind
Schwächesymptome [...]. Es scheint in seiner ersten Entfaltung mehr die Reaktion des Gemü-
tes gegen die Hilflosigkeit einer schwachen und seiner gewöhnlichen Stütze beraubten Intel-
ligenz zu sein« (Meyer: »Wahnsinn«, 8).
Ebd., 7. - Testimonium paupertatis = Armutszeugnis.
Ebd., 21. Bei Meyer: »So wenig ihr Geschmack den Widerwillen gegen eine fremde Speise
überwinden kann, [...] so wenig ist ihr Gehirn imstande, die große Menge fremdartiger
Objekte zu bewältigen«.
Esquirol schreibt: »La nostalgie porte au suicide« (Das Heimweh führt zum Selbstmord). Vgl.
J.-E. Esquirol: Des maladies mentales considerees sous les rapports medical, hygienique etmedico-
legal, Bd. 1, Paris 1838, 546.
Vgl. L. Buzorini: Grundzüge einer Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, mit kriti-
schem Rückblick auf die bisher bestandenen Lehren, Stuttgart, Tübingen 1832,163.
Vgl. F. Bird: Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten: zum Gebrauche für practische
Aerzte, Berlin 1836,255.
Vgl. J. Guislain: Klinische Vorträge über Geistes-Krankheiten, dt. von H. Laehr, Berlin 1854, 62.
Vgl. H. Schüle: Handbuch der Geisteskrankheiten, zweite, unveränderte Aufl., Leipzig 1880,257.
Wilhelm Griesinger (1817-1868) gilt als Begründer der wissenschaftlichen Psychiatrie in
Deutschland. Bevor er 1865 den ersten Lehrstuhl für Psychiatrie im deutschen Sprachraum
bekleidete, war er Professor für Innere Medizin. Griesinger bestimmte die Entwicklung der
deutschen Psychiatrie als Wissenschaft und Praxis maßgeblich mit. U.a. forderte er eine
engere Verbindung zwischen Forschung und Lehre und entwickelte einen Reformplan der
psychiatrischen Versorgung. Die psychiatrischen Universitätskliniken gehen wesentlich auf
seine Idee des >Stadt-Asyls< zurück. 1867 erschien auf seine Initiative hin das erste Heft des
Archivs für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, das über ein Jahrhundert die wissenschaftlich
führende Psychiatrie-Zeitschrift in deutscher Sprache werden sollte. Sein vielseitiger Ansatz
wird jedoch oft auf die Formel »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten« - die übrigens
in dieser Form in seinen Schriften nie vorkommt - reduziert. Zu dieser verkürzten und undif-
ferenzierten Rezeption von Griesingers Psychiatrieverständnis dürfte Jaspers durch seine
wiederholte Stellungnahme zu Griesingers »Dogma« nicht unwesentlich beigetragen haben