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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0230
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Psychologie der Weltanschauungen

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heitswille unter der Idee. Der Vorgang des Schaffens ist selbst ein für die Analyse in der
Unendlichkeit liegender, darum ewig rätselhafter Prozeß. Die Schöpfung vermittelt
für den Rezeptiven wiederum eine Richtung zum Ganzen und zum Unendlichen. Das
Greifbare im Sinnlichen ist als solches endlich, aber vermöge seines Hinleitens auf ein
Unendliches ist es Symbol in der Kunst, Fragment eines Weges in der Wissenschaft,
Metaphysik in der Philosophie.
Dem Schaffen steht das Können, der Schöpfung die Leistung gegenüber. Eine Lehre
von den Begabungen ist keine Lehre vom Schaffen. Ohne Begabungen kann sich kein
Schaffen auswirken. Aber Begabungen allein führen nur zu Leistungen (des Ge-
schmacks, der Methode, des letzthin Lernbaren und Definierbaren, des Endlichen und
restlos Analysierbaren).
Im Schaffen entsteht etwas qualitativ Neues, nicht in Kontinuität, sondern durch
einen Sprung. Jedoch ist dieses Merkmal nicht genügend zur Kennzeichnung des
Schöpferischen; auch z.B. in den chemischen Prozessen entsteht qualitativ Neues
durch einen Sprung. Man könnte das Schöpferische im positiv Wertvollen finden, also
das qualitativ Neue, das wertvoll ist, eine Schöpfung nennen. Doch ist der Wert nur
ein Akzent, der auf die Sache gesetzt ist, er macht das Wesen nicht deutlicher. Gegen-
über dem chemischen Prozeß, der durch Gesetze erkennbar und konstruierbar ist, ist
die Schöpfung durch kein Gesetz zu erreichen. Die Schöpfung ist absolut individuell, aber
nicht als ein Individuelles auch erkennbar, sondern nur anschaubar. Sie mag Endli-
ches und Lehrbares zum erstenmal in die Geschichte treten lassen, eingebettet ist die-
ses Endliche in ein Unendliches, das ein Einzelnes aus sich heraussetzte.
Das Schöpferische ist als Schöpferisches unerkennbar, erkannt wird nur das Ein-
zelne, Endlichgewordene, welches in ihm zutage tritt. Das Schöpferische ist ein Grenz-
begriff, wie Leben und Enthusiasmus. Was aber für die ratio Grenzbegriff ist, ist für die
nicht rationalisierbare Anschauung Substanz und Wesen.
| Unter den abgeleiteten Gestalten des Enthusiasmus kann es keine Verabsolutierung ge-
ben, denn es ist das Wesen der enthusiastischen Einstellung, von vornherein unbedingt,
total, also als Erlebnis absolut zu sein. Jedoch sind abgeleitete Gestalten auch hier häu-
figer als die substantiellen. Vor allem die Formalisierung führt zu Verwechslungen. Da die
enthusiastische Einstellung im einzelnen Augenblick in der Form gesteigerten Affektle-
bens sich kundgibt, liegt die Verwechslung von enthusiastischer Einstellung und gewis-
sen Affekten nahe. Man kann den Berauschten, den sich Verlierenden, der sein Ich zu-
nichte werden läßt, den Beseligten - wodurch es nun sei - für enthusiastisch halten.
Etwas, das der enthusiastischen Einstellung ähnlich sieht, kann man in gesteigertem Affekt
aller Art, im Alkoholrausch, in typischen psychotischen Zuständen, in Ekstasen hysterischer,
epileptischer und anderer psychotischer Art beobachten. Der körperliche Ausdruck des Verklärt-
seins ist gerade hier in Übersteigerung zu sehen. Diese der Genese nach sehr verschiedenen Zu-
stände erfordern zur Auffassung das Bewußtsein folgenden Gegensatzes: Das enthusiastische
Erleben steht entweder in vollster und allseitiger Beziehung zur Gesamtpersönlichkeit, aus des-

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