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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0306
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Psychologie der Weltanschauungen

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existentiellen Kämpfe objektiviert werden, die Werte nach ihrem Rang. Es entstehen
Rangordnungen der Werte (Werthierarchien; Werttafeln nannte sie Nietzsche).
Der Wertakzent, der allen Dingen für uns mehr oder weniger anhaftet, nimmt mannigfaltige
Gestalten an je nach dem Organ, an das er sich wendet: Werte wenden sich an das bloße Gefühl;
dieses reagiert mit Sympathien und Antipathien; der seelische Zustand ist passiv, stimmungs-
mäßig, die ganze Art billig und ohne Verantwortung, das Gemüt bewegend, aber nicht die Seele
als Totalität prägend, fließend, imstande, vielerlei zu vereinigen, Widersprüche unbemerkt ne-
beneinander bestehen zu lassen. - Werte wenden sich weiter an die beurteilende Einsicht, sofern
diese Gefühle sich objektivieren und nun Gegenstände, Menschen, Werke, Handlungen, Wer-
tungen mit den Wertakzenten von Seiten des Zuschauers versehen werden. Die bloß betrach-
tende, andere beurteilende Ethik und die nachträgliche, passive Selbstbeurteilung sind Bei-
spiele. - Werte wenden sich schließlich an den Willen. Dieser läßt die Gefühlsreaktionen zu
Worte kommen, bedient sich des Mediums der Reflexion und möglicher Beurteilungen, aber
das Entscheidende ist ihm, daß die Wertungen in ihm wirklich werden, indem sie aktiv sind. Er
erstrebt faktisch etwas als Gut, läßt es nicht bei Sympathie und Wunsch bewenden. Er wählt,
wo das Gefühl alles probieren kann. Er läßt die Existenz mit dem gewählten Wert durchdrin-
gen. Er ist darum das eigentlich substantielle, echteste Werten, weil er allein zur Erfahrung der
Werte in der Wirklichkeit führt und diese Erfahrung sich Kriterium sein läßt statt eines bloß in-
tellektuellen Idealbildes oder statt irrealer Gefühlsbewegungen. Er ist allein sich als verantwort-
lich bewußt. Hier leben die Wertungen, hier werden sie geschaffen, und hier wirken sie prägend
auf den Handelnden zurück.281
Sieht man sich um, worauf es dem Menschen ankommt, so findet man zunächst
eine endlose Reihe von Werten: Gesundheit, Macht, Ruhm, Vermögen, Genuß, Wis-
senschaft, Tapferkeit, Sport, Arbeit, Käfersammlung, Schachspiel und so beliebig wei-
ter. Und vergleicht | man die Menschen, so sieht man, wie ganz verschiedenes von
den Einzelnen bevorzugt wird, und wie oft der Einzelne das ihm Wichtige, das ihm
Richtige für das Wichtige und das Richtige überhaupt hält. Eine unendliche Mannig-
faltigkeit von Werten, d.h. mit Wertakzenten versehener Gegenstände, existiert in
ganz verschiedenen Rangordnungen.
Die Aufgabe des Betrachters bestände darin, zunächst die Werte zu ordnen, dann
zu sehen, in welchen Rangordnungen sie für den Menschen da sein können. Beide Auf-
gaben sind nicht auf eine eindeutige und vollständige Weise gelöst und auch nicht lös-
bar. Es gibt manche Schemata, die als Schemata natürlich jedes für sich vollständig
sind, die aber alle mehr oder weniger äußerlich bleiben, auf verschiedenen Gesichts-
punkten beruhen, und von denen keines für sich den Vorzug beanspruchen darf.282
Das eigentliche Interesse hat nicht ein Schema aller möglichen Werte - das kann
höchstens terminologisch bestimmend und nützlich sein -, sondern die Rangordnung
der Werte. In jeder Wahl, in jedem Leben wird faktisch eine Rangordnung statuiert.
Wenn diese Rangordnung, die dem Sinn nach im Leben da war, objektiv formuliert wird
und dazu für sie - die vielleicht nur für den konkreten lebendigen Fall gemeint war -
Allgemeingültigkeit beansprucht wird, so entstehen die »Lebenslehren«, die man im

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