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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0317
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Psychologie der Weltanschauungen

werden. Das ist ein relativ armer Überbau, aus dem Bedürfnis nach einem bewußten
Weltbild der äußersten Horizonte entsprungen. Es schließt nicht aus, daß die Ideen
als Kräfte wirksam bleiben. Selbst leer zeigt es gerade, daß eine Welt für den Menschen
nur in der Bewegung durch Ideen, nicht in dem direkten Erfassen der Ideen besteht.
Eine systematische Erforschung, Feststellung und Ordnung der Antinomien und
Ideen wäre die Aufgabe dessen, der dieses philosophische Weltbild entwickeln will.
Wir versuchen einen kurzen, unvollständigen Abriß:
Die Widersprüche entspringen entweder im Prozeß des Denkens oder sie liegen im
Gegenstand, im Erkennbaren, in der objektiven Welt selbst:
a) Antinomien des Denkens sind beispielsweise diejenigen, die als Probleme am An-
fang der Entwicklung der antiken Philosophie stehen: das Werden und die Bewegung,
anscheinend unmittelbar gegeben und anschaulich, verwickeln, wenn sie gedacht
werden sollen, in Widersprüche rein logischer Art. Der sich bewegende Körper muß
an einem Orte gedacht werden, er muß, da er sich bewegt, aber zugleich in einem klei-
235 nen Zeitteil an einem andern Orte sein. Im | Werden ist etwas und ist es, da es anders
wird, zugleich nicht. Aus Sein und Nichtsein setzt es sich zusammen, und das ist ein
Widerspruch. Die Eleaten brachten diese Schwierigkeiten in die bündigen Formen der
berühmten Fangschlüsse. Ferner können wir keine Kontinuität denken, ohne sie in
Diskontinuität aufzulösen. Und jede Diskontinuität suchen wir in Kontinuität über-
zuführen. Der Stetigkeit steht der Sprung gegenüber, und unser Denken strebt immer
vom einen zum andern. Bei keinem Sprunge, bei keiner Stetigkeit ist es endgültig be-
friedigt. In allen diesen Fällen hängt die Schwierigkeit damit zusammen, daß eine Un-
endlichkeit da ist. Indem man sich dieser bewußt wird, sind aber alle diese Schwierig-
keiten tatsächlich gelöst worden.
Alles, was hier antinomische Schwierigkeiten machte, ist uns als Ganzes unmittel-
bar gegeben: wir sehen unmittelbar Bewegung und Werden, Kontinuität und Diskon-
tinuität oder Stetigkeit und Sprung. Es sind hier nur Schwierigkeiten des Denkens als
formalen Tuns, Schwierigkeiten der Methode, die methodisch lösbar sind (die Unend-
lichkeit des Quantitativen durch die Infinitesimalrechnung). Hier steht der Mensch
keinen Situationen der ernstlich relevanten Art gegenüber. Hier ist keine Verzweiflung.
Nur vertretend haben diese Antinomien eine Rolle gespielt, solange sie noch nicht
durchschaut waren, wie in der antiken Philosophie. Antinomien sind sie insofern, daß
sie nicht direkt lösbar sind, sondern nur indirekt überwunden werden. Die Überwin-
dung ist aber kein spontaner, lebendiger Akt, sondern etwas Lernbares, Technisch-
Methodisches. Bevor diese Methoden bekannt waren, konnten sie einen symboli-
schen Charakter echter Antinomien haben, auf welche eigentlich die Intention
gerichtet war.
b) Antinomien der Wirklichkeit sind solche, die durch Ideen überwunden werden.
Sie werden nicht etwa gelöst, denn die Ideen sind keine Formeln, die mitteilbar und
lernbar wären, sondern von jedem spontan erzeugte Kräfte. Die Richtungen dieser
 
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