Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0330
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Psychologie der Weltanschauungen

237

ches erscheinen, selbst seine eigene Vernichtung ... hat jemand nur einen Teil, so macht das,
was ihm fehlt, mehr Kummer als das, was er hat, Genuß ..., wir bereiten uns stets vor zu leben
und leben nie... Der Instinkt lehrt uns, daß wir unser Glück in uns suchen müssen. Unsere Lei-
denschaften treiben uns nach außen. Dem Wort der Philosophen: >Greift in euer Inneres, da
findet ihr das Glück<, ist nicht zu glauben. Der Stoiker ist lächerlich: Er will die Leidenschaft in
sich abstreifen und Gott werden, wie andere umgekehrt der Vernunft entsagen und Tiere wer-
den wollen... Das Glück suchen wir und finden nur Elend... Man entdeckt im Menschen | Größe 250
und Elend.« »Kurz der Mensch weiß, daß er elend ist.« »Welch eine Chimäre ist der Mensch!
Welch ein Chaos, welch ein Sklave des Widerspruchs!... ein unbegreifliches Unding!« -33°
Schopenhauer: Alles Leben ist Leiden. Ein beständiges Streben ohne Ziel, ohne Rast; es ist aus
Bedürftigkeit, Mangel, Schmerz entsprungen; bei Sättigung tritt sofort Langeweile ein. Das Leben
ist ein Kampf um das Dasein; wenn aber das Dasein da ist, so ist nichts damit anzufangen. Unsere
Wünsche sind grenzenlos, jeder befriedigte Wunsch gebiert einen neuen. Gibt das Leben etwas, so
war es, um zu nehmen. Das Glück liegt stets in der Zukunft oder in der Vergangenheit. Der Wille
zum Leben ist ein Streben, das sich selbst vereiteln muß ... Alle Befriedigung ist bloße Negativität.
Der Schmerz allein ist Positivität. Große Lreude ist nur denkbar als folge großer vorhergegangener
Not. Alles, was uns umgibt, trägt die Spur des Leidens. Die Welt ist eine Hölle; homo homini lupus.331
Der glücklichste Augenblick des Glücklichen ist doch der seines Einschlafens, wie der unglücklich-
ste des Unglücklichen der seines Erwachens. Die Welt ist schön zu sehen, aber nicht zu sein.332
Pessimismus und Optimismus und die beide ablehnende Lebendigkeit sind sehr
allgemeine abstrakte Typen. Sie gewinnen konkretere Gestalt in einer Reihe von einzel-
nen Reaktionen auf das Leiden, die nun zu charakterisieren sind. Es gibt zunächst Reak-
tionen, die sich so verhalten, als ob das Leiden nichts Endgültiges, etwas ganz Vermeid-
bares wäre. Man drückt sich darum herum, das Leiden als etwas Letztes aufzufassen,
besonders solange man selbst nicht vital von ihm sich betroffen fühlt:
Man weicht dem Leiden aus: bei sich, indem man Fakta nicht auffaßt, nicht verar-
beitet, nicht durcherlebt; indem man seinen Horizont eng hält: bei anderen, indem
man sich fernhält, sich rechtzeitig zurückzieht, wo das Leiden unheilbar wird.
Man ist tätig und denkt nicht an mögliches Leiden oder reißt sich aus dem Leiden
durch Tätigkeit - sofern es nicht die vitalen Kräfte lähmt. Man borniert sich auch hier
künstlich, instinktiv. Die Tätigkeit selbst kann unter solchen Umständen nur eine dem
Sinn und der Meinung nach endliche, wesentlich technische sein; würde sie ideen-
haft, von universalem Charakter, ließe sich das Erlebnis des Leidens nicht fernhalten
und nicht verdrängen. Das gelingt nur bei endlichem Tun, nicht beim Schaffen.
Man bekämpft das Leiden unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß es ver-
meidbar, und daß es aufhebbar ist. In vielen Fällen kleinen Leidens hat man Erfolg.
Und von da her bilden sich Gedanken - zumal in primitiven Stufen des Geistes -, auch
den anscheinend unvermeidlichen Leiden: Tod, Krankheit usw. beizukommen. Ohne
Bewußtsein der Antinomien und der Grenzen werden metaphysisch-mythische Welt-
bilder zu magischem Handeln benutzt. | Der Mensch demütigt sich vor Göttern, be- 251
fragt Orakel, nimmt allerhand Opfer vor. Gedanken, das Leid diene zur Strafe, zur
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften