XXXIV
Einleitung des Herausgebers
anschließend wieder als Fluchtpunkt eines formalen Transzendierens, aus dem Vernunft
in den Pluralismus der Wahrheitsdiskurse kommt.129 Die »Weisen des Umgreifenden ins-
gesamt sind das zweifellos Gegenwärtige. [...]. Es ist die weitere Frage, ob diese Imma-
nenz sich genug ist oder auf anderes weist. In der Tat: der Sprung aus der Immanenz
wird von Menschen vollzogen, und zwar in einem: von der Welt zur Gottheit und von
dem Dasein des bewußten Geistes zur Existenz. Existenz ist das Selbstsein, das sich zu
sich selbst und darin zu der Transzendenz verhält, durch die es sich geschenkt weiß,
und auf die es sich gründet.«130
In der Philosophie hatte Jaspers das »Ergreifen« der Existenz noch primär aus einer
»Unbefriedigung« abgeleitet, die uns befalle, wenn wir »theoretisch oder praktisch das
Weltdasein Alles sein lasse[n]«, zugleich aber hinzugefügt, diese Unbefriedigung sei
»nicht zureichend begründbar«.131 Tatsächlich ist nicht klar, was an einer Einstellung
unbefriedigend sein sollte, die mit dem >Weltdasein< sich begnügt, die Grenzen wis-
senschaftlicher Weltorientierung akzeptiert und ein Selbstsein verwirklicht, das mit
Brüchen und partikularen Identitäten zu Rande kommt. Unbefriedigend wäre eine sol-
che Einstellung allenfalls dann, wenn wir sie als eine Art struktureller Täuschung an-
sehen müssten, in der das jeweils realisierte Selbstsein de facto auf Fremdbestimmung
hinausliefe, auf die Erfüllung von Rollenerwartungen und die Konformität mit dem
Durchschnitt dessen, was >man< tut oder unterlässt. Innerweltlich gäbe es dann kein
freies Selbst, weil die Entscheidung, die das Selbst kreiert, im Dasein immer schon vor-
geformt wäre. Aber diese Überlegung setzt eine konstitutive Unfreiheit des Daseins in
der Welt voraus, analog dem Existenzial des »Verfallens« bei Heidegger.132 Gerade den
ontologischen Charakter des Verfallens bestreitet Jaspers.133 Sein Gegenmodell läuft
auf eine Variante des Kantischen Autonomiegedankens hinaus, den Jaspers mit dem
Konzept der Selbstwahl verbindet.
Von der existentiellen Wahl sagtjaspers, sie sei »der Entschluß, im Dasein ich selbst
zu sein«.134 Existentiell Wählen ist also stets situativ, aber nicht punktuell. Es verlangt
jeweils, sich für etwas zu entscheiden im Blick auf ein Leben, das wir, im Sinne »star-
ker Wertungen«135, führen wollen: Die existentielle Wahl ist Ausdruck einer Lebens-
haltung, die in konkreten Entscheidungssituationen sowohl antizipiert wie aktuali-
129 - woraus in Von der Wahrheit ein eigener vierter Schritt wird, vgl. ebd. 49-50.
130 S. 113.
131 Philosophie II, 6.
132 Vgl. E. Tugendhat: »>Wir sind nicht fest verdrahtet«: Heideggers >Man< und die Tiefendimension
der Gründe«, in: Philosophische Aufsätze 1992-2000, Frankfurt a.M. 2001, 138-162.
133 Vgl. H. Arendt: Was ist Existenz-Philosophie?, 44.
134 Philosophie 11, 181.
135 im Sinne von H. Frankfurt: »Willensfreiheit und der Begriff der Person«, in: Freiheit und Selbstbe-
stimmung. Ausgewählte Texte, hg. von M. Betzler und B. Guckes, Berlin 2001, 65-83.
Einleitung des Herausgebers
anschließend wieder als Fluchtpunkt eines formalen Transzendierens, aus dem Vernunft
in den Pluralismus der Wahrheitsdiskurse kommt.129 Die »Weisen des Umgreifenden ins-
gesamt sind das zweifellos Gegenwärtige. [...]. Es ist die weitere Frage, ob diese Imma-
nenz sich genug ist oder auf anderes weist. In der Tat: der Sprung aus der Immanenz
wird von Menschen vollzogen, und zwar in einem: von der Welt zur Gottheit und von
dem Dasein des bewußten Geistes zur Existenz. Existenz ist das Selbstsein, das sich zu
sich selbst und darin zu der Transzendenz verhält, durch die es sich geschenkt weiß,
und auf die es sich gründet.«130
In der Philosophie hatte Jaspers das »Ergreifen« der Existenz noch primär aus einer
»Unbefriedigung« abgeleitet, die uns befalle, wenn wir »theoretisch oder praktisch das
Weltdasein Alles sein lasse[n]«, zugleich aber hinzugefügt, diese Unbefriedigung sei
»nicht zureichend begründbar«.131 Tatsächlich ist nicht klar, was an einer Einstellung
unbefriedigend sein sollte, die mit dem >Weltdasein< sich begnügt, die Grenzen wis-
senschaftlicher Weltorientierung akzeptiert und ein Selbstsein verwirklicht, das mit
Brüchen und partikularen Identitäten zu Rande kommt. Unbefriedigend wäre eine sol-
che Einstellung allenfalls dann, wenn wir sie als eine Art struktureller Täuschung an-
sehen müssten, in der das jeweils realisierte Selbstsein de facto auf Fremdbestimmung
hinausliefe, auf die Erfüllung von Rollenerwartungen und die Konformität mit dem
Durchschnitt dessen, was >man< tut oder unterlässt. Innerweltlich gäbe es dann kein
freies Selbst, weil die Entscheidung, die das Selbst kreiert, im Dasein immer schon vor-
geformt wäre. Aber diese Überlegung setzt eine konstitutive Unfreiheit des Daseins in
der Welt voraus, analog dem Existenzial des »Verfallens« bei Heidegger.132 Gerade den
ontologischen Charakter des Verfallens bestreitet Jaspers.133 Sein Gegenmodell läuft
auf eine Variante des Kantischen Autonomiegedankens hinaus, den Jaspers mit dem
Konzept der Selbstwahl verbindet.
Von der existentiellen Wahl sagtjaspers, sie sei »der Entschluß, im Dasein ich selbst
zu sein«.134 Existentiell Wählen ist also stets situativ, aber nicht punktuell. Es verlangt
jeweils, sich für etwas zu entscheiden im Blick auf ein Leben, das wir, im Sinne »star-
ker Wertungen«135, führen wollen: Die existentielle Wahl ist Ausdruck einer Lebens-
haltung, die in konkreten Entscheidungssituationen sowohl antizipiert wie aktuali-
129 - woraus in Von der Wahrheit ein eigener vierter Schritt wird, vgl. ebd. 49-50.
130 S. 113.
131 Philosophie II, 6.
132 Vgl. E. Tugendhat: »>Wir sind nicht fest verdrahtet«: Heideggers >Man< und die Tiefendimension
der Gründe«, in: Philosophische Aufsätze 1992-2000, Frankfurt a.M. 2001, 138-162.
133 Vgl. H. Arendt: Was ist Existenz-Philosophie?, 44.
134 Philosophie 11, 181.
135 im Sinne von H. Frankfurt: »Willensfreiheit und der Begriff der Person«, in: Freiheit und Selbstbe-
stimmung. Ausgewählte Texte, hg. von M. Betzler und B. Guckes, Berlin 2001, 65-83.