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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0036
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Einleitung des Herausgebers

XXXV

siert wird. Das kann schiefgehen. Wir wissen nicht, mit welcher Entscheidung wir
tatsächlich »leben können«, welche uns zurückwirft oder sogar von uns selbst ent-
fremdet, sobald wir mit ihren Folgen konfrontiert sind - oder mit ihren verborgenen
Motiven. Und wir wissen nicht, ob die Lebenshaltung, in deren Horizont wir uns ak-
tuell pro oder contra entscheiden, die Alternativen wirklich ausschöpft. Vielleicht gibt
es dritte Wege, die wir - jetzt - nicht sehen. Im Scheitern der Wahl bleiben wir »uns
aus«; der Gelingensfall besteht umgekehrt in einer Konvergenz zwischen Lebenshal-
tung und situativer Entscheidung, die man als »Authentizität« bezeichnen könnte. Für
Jaspers stellt der Gelingensfall der Authentizität nichts Ungewöhnliches oder Außer-
alltägliches dar, er kommt in der Liebe zum Tragen oder im Gewissen und überall, wo
das, wofür wir uns engagieren, dem Leben entspricht, das wir uns vorstellen (bzw. vor-
nehmen). Aber der Gelingensfall ist nicht zwingend. »Eines Tages bist du wieder glück-
lich und vielleicht ich auch«, beruhigt Lene Baron Botho in Irrungen, Wirrungen. »Und
wenn nicht? Was dann?« »Dann lebt man ohne Glück.« Selbstsein ist also nicht in je-
dem Fall gelingendes Leben. Was zählt ist vielmehr, dass wir, ohne die Idee der Selbst-
wahl zu desavouieren, weder die Entsprechung noch das Scheitern als zufällig, dem Welt-
lauf geschuldet, ansehen dürfen. Die existentielle Wahl geschieht im Dasein, und sie
gelingt oder scheitert in der Welt. Sie gelingt oder scheitert jedoch, als Selbstwahl,
nicht an der Welt. Man kann die Selbstwahl deshalb als die Selbstverpflichtung begrei-
fen, den Entschluss, »im Dasein ich selbst zu sein«, nicht von der Welt abhängig zu
machen, auf deren Faktizität die Wahl doch angewiesen bleibt. Diese Dialektik ent-
spricht der Jaspers'schen Formel, »in der Welt zugleich außer ihr zu sein«, »außer ihr«,
d.h. bezogen auf eine Transzendenz, der sich das wählende Selbst »hingeben« oder an
der es verzweifeln kann, die es aber als den Grund seiner Freiheit in der Welt erfährt.
Insofern ist Bezug von Existenz auf Transzendenz praktisch-analytisch: Er stellt sich
ein, sobald wir existentiell wählen. »Ich kann in der Tat nur wollen, wenn Transzen-
denz ist.«136 Für Jaspers war dies bereits die Position Kants, nicht im Sinne einer revisi-
onären, sondern deskriptiven Metaphysik der praktischen Vernunft: dass wir uns als
Bürger eines intelligiblen Reichs der Zwecke verstehen müssen, wenn wir uns im Reich
der Ursachen und Mittel als frei verstehen wollen. Allerdings ging Kants Beschreibung
Jaspers nicht weit genug, vor allem blendete Kant das Problem der Religion aus. Gerade
weil der Bezug von Existenz auf Transzendenz im angedeuteten Sinne analytisch ist,
muss der >Wähler< die eigene Freiheit als zugleich unverfügbar erleben. »Der ganz auf
sich Stehende erfährt angesichts der Transzendenz am entschiedensten jene Notwen-
digkeit, die ihn ganz in die Hand seines Gottes legt.«137 Diese Notwendigkeit bringt un-
weigerlich Assoziationen des Geschenkt-seins ins Spiel, die Jaspers auch deshalb häufig

136 Philosophie II, 198.

137 Ebd.,200.
 
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