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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0082
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Herkunft der gegenwärtigen philosophischen Situation

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Denn diese ist ihnen nicht Größe schlechthin, sondern eine einmalige, der Situation
des Zeitalters eigen zugehörige.
Merkwürdig ist, wie beide auch für diese Seite ihres Wesens zu ähnlichen Gleichnis-
sen kommen. Nietzsche vergleicht sich dem »Krikelkrakel, den eine unbekannte Macht
übers Papier zieht, um eine neue Feder zu probieren«;1 74 der positive Wert seiner Krank-
heit ist sein ständiges Problem. Kierkegaard meint wohl »ausgestrichen zu werden von ♦
Gottes gewaltiger Hand, ausgelöscht wie ein mißglückter Versuch«, 75 er fühlt sich wie ♦
eine Sardine, die an den Rand der Büchse geraten und zerdrückt ist;™ 76 ihm kommt der
Gedanke, »daß in jeder Generation zwei oder drei sind, die an die andern geopfert wer-
den, in schrecklichen Leiden entdecken sollen, was den andern zugut kommt ...«[.]77
Er fühlt sich wie eine »Interjektion in der Rede ohne Einfluß auf den Satz«,iv 78 wie ein[] ♦
»Buchstabe[], der verkehrt gedruckt ist in der Zeile«,v 79 vergleicht sich mit Geldzetteln
aus dem verrückten Geldjahr 1813, in dem er geboren wurde: »Es ist etwas an mir, als
wäre ich etwas Großes, aber auf Grund der verrückten Konjunkturen gelte ich nur
wenig.«vi 80
Beide sind sich ihres Seins als »Ausnahme« bewußt. Kierkegaard entwickelt eine The-
orie der Ausnahme,81 durch die er sich selbst versteht, während er das Allgemeine oder
das Menschliche am Menschen liebend als das Andere, ihm Versagte darstellt. Nietz-
sche weiß sich als Ausnahme, spricht »zugunsten der Ausnahme, vorausgesetzt, daß
sie nie Regel werden will«,vii 82 und verlangt vom Philosophen gerade deshalb, »weil er
die Ausnahme ist, die Regel in Schutz zu nehmen«.viii 83
|Beide wollen daher nichts weniger als paradigmatisch für andere sein. Kierkegaard 32
sieht sich wie »eine Art Probemensch«: »Im humanen Sinn kann sich niemand nach
mir bilden ... Ich bin ein Mensch, wie er in einer Krisis notwendig werden könnte: ein
Versuchskaninchen sozusagen für das Dasein.«ix 84 Nietzsche wehrt von sich ab, die ihm
folgen wollen: »Folge nicht mir nach, sondern dir!«85
Dieses Ausnahmesein, ihnen ebenso qualvoll wie einzig als Anspruch ihrer Aufgabe,
kennzeichnen sie weiter übereinstimmend als ein reines Geistsein, als ob sie des eigent-
lichen Lebens verlustig wären. Kierkegaard sagt, er sei »leiblich beinahe in jeder Hin-
sicht der Bedingungen beraubt, um für einen ganzen Menschen gelten zu können«;x 86 ♦

i An Gast 8, 81.

ii Tag. I, 120.

iii Tag. I, 231.

iv Tag. I, 92.

v Tag. 1, 144.

vi Tag. I, 211.

vii 5, 106.

viii | 16,303!]. 152 +

ix IV, 332.

x B. d. R. 77.
 
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