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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0083
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Vernunft und Existenz

gelebt habe er eigentlich nicht, außer als Geist; Mensch sei er nicht gewesen, am aller-
wenigsten Kind und Jüngling? 87 Ihm fehle »die tierische Bestimmung im Verhältnis
zum Menschsein«." 88 Seine Schwermut gehe bei ihm »bis zur Grenze des Schwach-
sinns«, sei »etwas, das er verbergen könne, solange er unabhängig sei, aber das ihn un-
brauchbar mache zu einem Dienst, wo er nicht selber alles bestimme«."1 89 Nietzsche
hat die Erfahrung seines reinen Geistseins, »durch Überfülle von Licht, durch seine
Sonnennatur, verurteilt zu sein, nicht zu lieben«,iv 90 erschütternd hinausgesungen im
»Nachtlied« des Zarathustra: »Licht bin ich: ach, daß ich Nacht wäre! ... Ich lebe in
meinem eigenen Lichte ... «[.]v 91
Die mit dem Ausnahmesein verknüpfte furchtbare Einsamkeit ist beiden gemein-
sam. Kierkegaard weiß, daß er keine Freunde haben kann; Nietzsche hat an seiner
wachsenden Einsamkeit mit hellem Wissen gelitten bis zu der Grenze, daß er meinte,
es nicht mehr ertragen zu können. Wiederum kommt beiden dasselbe Gleichnis:
Nietzsche vergleicht sich der Tanne in der Höhe am Abgrund: »Einsam! Wer wagte es
33 auch, hier Gast zu sein ... Ein Raub|vogel vielleicht: der hängt sich wohl ... schaden-
♦ froh ins Haar ...«[.]92 Und Kierkegaard: »Wie eine einsame Tanne, egoistisch abgeschlos-
sen und nach dem Höheren gerichtet, stehe ich da, werfe keinen Schatten, und nur
die Waldtaube baut ihr Nest in meinen Zweigen.«93
Zu der Verlorenheit ihres Daseins, dem Mißratensein und Zufälligen steht bei bei-
den in großartigem Kontrast ihr im Lauf des Lebens wachsendes Bewußtsein von Sinn,
Bedeutung und Notwendigkeit aller sie treffenden Ereignisse:
Kierkegaard nennt es Vorsehung. Er erkennt das Göttliche hieran, »daß alles, was da
geschieht, gesagt wird, vorgeht usw., ominös ist; das Faktische verwandelt sich bestän-
♦ dig dazu, daß es etwas weit Höheres bedeutet«.vi 94 Das Faktische ist ihm nicht etwas,
von dem loszukommen, sondern das zu durchdringen ist, bis Gott selber die Erklärung
gibt.vii 95 Was er selber tut, auch dessen Sinn wird erst später offenbar: Es ist »das Mehr,
das ich nicht mir selbst verdanke, sondern der Vorsehung. Es zeigt sich beständig so,
daß, was ich nach der größtmöglichen Überlegung tue, ich doch hintennach immer
weit besser verstehe.«Viii 96

i Chr. 438.

ii Tag. II, 167.

iii Tag. II, 94.

iv 15,97.

♦ v 6, I52ff.

vi Tag. II, 275.

vii Tag. I, 201.

viii Tag. I, 254.
 
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