Herkunft der gegenwärtigen philosophischen Situation
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Nietzsche sieht den Zufall. Es kommt ihm darauf an, die Zufälle auszunutzen. Die
»erhabene Zufälligkeit«197 beherrscht ihm das Dasein. »Der Mensch der höchsten Geis-
tigkeit und Kraft fühlt sich jedem Zufall gewachsen, aber auch ganz in den Schneeflo-
cken der Zufälle drin.«" 98 Diese Zufälligkeit aber wird für Nietzsche immer mehr zu ei-
nem verwundert hingenommenen Sinn: »Was ihr Zufall heißt - ihr selber seid das, was
euch zufällt!«1" 99 Das Leben hindurch finden sich bei ihm Andeutungen, wie ganz be-
stimmte ihn betreffende Ereignisse ihm in der größten Zufälligkeit gerade einen gehei-
men Sinn zeigen, und am Ende schreibt er: »Es gibt keine Zufälle mehr.«iv 100
Wie aber an der Grenze des Lebensmöglichen nicht das | Schwersein, sondern ge-
rade die vollkommene Leichtigkeit zum Ausdruck ihres Wissens wird, dafür diente bei-
den zum Bilde das Tanzen. Nietzsche ist im letzten Jahrzehnt seines Lebens Tanzen
in immer anderer Gestalt das Gleichnis für sein Denken, wo es ursprünglich ist.101 Und
Kierkegaard: »Dazu habe ich mich ausgebildet ... allezeit leicht in des Gedankens
Dienst tanzen zu können ... Mein Leben setze ich sofort ein, sowie eine Schwierigkeit
sich zeigt. Da geht das Tanzen leicht; denn der Gedanke an den Tod ist eine flinke Tän-
zerin; jeder Mensch ist für mich zu schwer ...«[.]102 Nietzsche sieht seinen Erzfeind im
»Geist der Schwere« - in Moral, Wissenschaft, Zweckhaftigkeit usw. -, aber ihn über-
winden heißt nicht, ihn abwerfen, um im Leichtsinn der Willkür beliebig zu werden,
sondern durch das Schwerste zum eigentlichen Aufschwung zu kommen, dessen Ge-
lingen der freie Tanz ist.103
Das Wissen um ihr Ausnahme-sein verwehrt beiden das Auftreten als Prophet. Zwar
scheinen sie wie jene Propheten Wesen, die aus uns unzugänglicher Tiefe sprechen;
aber in einem dem Zeitalter entsprechenden Sinn: Kierkegaard vergleicht sich einem
Vogel, dem Regenprophet: »Wenn in der Generation ein Ungewitter anfängt, sich zu-
sammenzuziehen, so zeigen sich solche Individualitäten, wie ich bin.«v 104 Sie sind Pro-
pheten, die sich als Propheten verbergen müssen. Sie werden ihrer Aufgabe bewußt in
einer ständigen Rückkehr aus dem Äußersten ihrer Forderung zur Abwehr jeder Auf-
fassung, die in ihnen Vorbild und Weg sieht. Kierkegaard wiederholt ungezählte Male,
er sei nicht Autorität, weder Prophet, noch Apostel, noch Reformator, nicht einmal
die Autorität eines Amtes. Seine Aufgabe sei, aufmerksam zu machen. Er sei ein Poli-
zeitalent, ein Spion im Dienste der Gottheit.105 Er enthüllt, aber er sagt nicht, was ge-
tan werden soll. Nietzsche will »das höchste Mißtrauen gegen sich erwecken«,vi 106 er-
34
i 14,24.
ii 14,28.
iii 14,269.
iv An Overbeck Weihnachten 88.
v Tag. 1, 231.
vi 14,361.
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Nietzsche sieht den Zufall. Es kommt ihm darauf an, die Zufälle auszunutzen. Die
»erhabene Zufälligkeit«197 beherrscht ihm das Dasein. »Der Mensch der höchsten Geis-
tigkeit und Kraft fühlt sich jedem Zufall gewachsen, aber auch ganz in den Schneeflo-
cken der Zufälle drin.«" 98 Diese Zufälligkeit aber wird für Nietzsche immer mehr zu ei-
nem verwundert hingenommenen Sinn: »Was ihr Zufall heißt - ihr selber seid das, was
euch zufällt!«1" 99 Das Leben hindurch finden sich bei ihm Andeutungen, wie ganz be-
stimmte ihn betreffende Ereignisse ihm in der größten Zufälligkeit gerade einen gehei-
men Sinn zeigen, und am Ende schreibt er: »Es gibt keine Zufälle mehr.«iv 100
Wie aber an der Grenze des Lebensmöglichen nicht das | Schwersein, sondern ge-
rade die vollkommene Leichtigkeit zum Ausdruck ihres Wissens wird, dafür diente bei-
den zum Bilde das Tanzen. Nietzsche ist im letzten Jahrzehnt seines Lebens Tanzen
in immer anderer Gestalt das Gleichnis für sein Denken, wo es ursprünglich ist.101 Und
Kierkegaard: »Dazu habe ich mich ausgebildet ... allezeit leicht in des Gedankens
Dienst tanzen zu können ... Mein Leben setze ich sofort ein, sowie eine Schwierigkeit
sich zeigt. Da geht das Tanzen leicht; denn der Gedanke an den Tod ist eine flinke Tän-
zerin; jeder Mensch ist für mich zu schwer ...«[.]102 Nietzsche sieht seinen Erzfeind im
»Geist der Schwere« - in Moral, Wissenschaft, Zweckhaftigkeit usw. -, aber ihn über-
winden heißt nicht, ihn abwerfen, um im Leichtsinn der Willkür beliebig zu werden,
sondern durch das Schwerste zum eigentlichen Aufschwung zu kommen, dessen Ge-
lingen der freie Tanz ist.103
Das Wissen um ihr Ausnahme-sein verwehrt beiden das Auftreten als Prophet. Zwar
scheinen sie wie jene Propheten Wesen, die aus uns unzugänglicher Tiefe sprechen;
aber in einem dem Zeitalter entsprechenden Sinn: Kierkegaard vergleicht sich einem
Vogel, dem Regenprophet: »Wenn in der Generation ein Ungewitter anfängt, sich zu-
sammenzuziehen, so zeigen sich solche Individualitäten, wie ich bin.«v 104 Sie sind Pro-
pheten, die sich als Propheten verbergen müssen. Sie werden ihrer Aufgabe bewußt in
einer ständigen Rückkehr aus dem Äußersten ihrer Forderung zur Abwehr jeder Auf-
fassung, die in ihnen Vorbild und Weg sieht. Kierkegaard wiederholt ungezählte Male,
er sei nicht Autorität, weder Prophet, noch Apostel, noch Reformator, nicht einmal
die Autorität eines Amtes. Seine Aufgabe sei, aufmerksam zu machen. Er sei ein Poli-
zeitalent, ein Spion im Dienste der Gottheit.105 Er enthüllt, aber er sagt nicht, was ge-
tan werden soll. Nietzsche will »das höchste Mißtrauen gegen sich erwecken«,vi 106 er-
34
i 14,24.
ii 14,28.
iii 14,269.
iv An Overbeck Weihnachten 88.
v Tag. 1, 231.
vi 14,361.