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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0081
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Vernunft und Existenz

Die Modernität gerade in ihrer Verwahrlosung hat sich an ihnen genährt: Aus ih-
rer Reflexion wurde, statt im Ernst der unendlichen Reflexion zu bleiben, ein Mittel
der Sophistik in beliebigem Sprechen; ihre Worte wie ihre ganze Erscheinung wurden
als großartiger ästhetischer Reiz genossen; sie lösten den Rest aller Bindungen bei den
anderen auf, die nicht zum Ursprung wahren Ernstes geführt werden, sondern für ihre
Willkür freie Bahn gewinnen wollten. So wurde ihre Wirkung gegen den Sinn ihres
Wesens und Denkens eine grenzenlos zersetzende.
Ihre Aufgabe wird ihnen selbst von Jugend an deutlicher in der ständig begleitenden
Reflexion; beide geben im Rückblick am Ende noch einmal ein Selbstverständnis durch
eine Totalinterpretation ihres Werkes,71 die in dem Grade zwingend ist, daß die Nach-
30 weit sie in der Tat auch so verstehen wird, wie sie verstanden werden wollten; all | ihr
Denken bekommt noch einmal einen neuen Sinn über den unmittelbar verstehbaren
hinaus; dieses Bild ihrer selbst ist untrennbar von ihrem Werk; denn wie sie sich ver-
standen haben, das ist nicht ein Hinzukommendes, sondern ein wesentlicher Zug ih-
res gesamten Denkens.
Eines der beiden gemeinsamen Motive für das umfassende Aussprechen ihres
Selbstverständnisses ist der Wille, nicht verwechselt zu werden. Verwechselt zu werden,
bezeichnen sie als ihre tiefe Sorge.72 Aus ihr heraus suchen sie für ihre Gedanken nicht
nur immer neue Mitteilungsformen, sondern auch die direkte Kundgabe des Sinns des
Ganzen, wie er sich ihnen am Ende zeigt. Ihr ständiges Bemühen geht darauf, wegen
der Mißverstehbarkeit des von ihnen Gesagten ein rechtes Verständnis mit allen nur
möglichen Mitteln vorzubereiten.
Da beide eine Hellsicht für die Zeit haben - sie sehen mit einer sie bezwingen-
♦ den Gewißheit, deutlich bis in die einzeln[ Jen Züge des gegenwärtigen Daseins,
was vor sich geht: das Ende eines Jahrtausende lang zusammenhängenden Lebens -,
da sie aber zugleich wahrnehmen, daß es keiner sieht außer ihnen, daß sie ein Be-
wußtsein des Zeitalters haben, das noch keiner sonst hat, das aber bald andere und
alle haben werden, so geraten sie notwendig in ein unerhört gesteigertes Selbstbewußt-
sein: es muß mit ihrer Existenz eine ganz besondere Bewandtnis haben. Nicht die ein-
fache geistige Überlegenheit - Kierkegaard über alle Menschen, die ihm begegneten,
Nietzsche über die meisten -, die sie bemerken müssen, ist es, sondern etwas
Ungeheures, das sie je für sich zu einem einzig-einsamen weltgeschichtlichen Wesen
macht.
Aber dieses Weltbewußtsein73, wirklich begründet, augenblicksweise ausgespro-
chen, dann wieder gedämpft, ist bei Kierkegaard jederzeit gemäßigt durch die De-
31 mut seiner christlichen Haltung, bei beiden durch das psychologische | Wissen um
ihr menschliches Mißratensein. Das Erstaunliche ist ihnen dann wieder, daß gerade
die Weise ihres Mißratenseins selbst die Bedingung ihrer eigentümlichen Größe ist.
 
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