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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0245
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Grundsätze des Philosophierens

stört war. Was in Menschen geschieht, die in Gemeinschaft ihr Dasein behaupten un-
ter ständigem Kampf nach aussen und innen um die bessere Ordnung aus jeweils
faktischen Ordnungen heraus, das ist verloren. Etwas ganz anderes ist dann ein Bund
der Ohnmächtigen in einem Gottesreich, im Glauben an Auferstehung und Erlösung.
Und grossartig erwächst ein umfassendes Bewusstsein verantwortlicher Staatsführung
im universalen Menschheitsinteresse, eine hohe Kunst der Verwaltung, der Aufbau ei-
ner weltumspannenden Autorität.
Aber die Stabilität der Universalreiche, die am Ende der Achsenzeit erwuchsen, war
trügerisch, wenn diese Reiche auch, gemessen an früheren Staatsbildungen, lange dau-
erten. Sie alle gerieten in Verfall und Auflösung. Die Jahrtausende brachten ausseror-
dentlichen Wechsel. Hindurch geht:
Erinnerung und Wiedererwecken der Möglichkeiten der Achsenzeit bringt neuen
geistigen Aufschwung. Rückkehr zu diesem Anfang ist das typische immer wiederkeh-
rende Ereignis in China und Indien und dem Abendland.
Höhepunkte des Menschseins kehren unregelmässig wieder, sei es im Zerfall einer
Autorität (z.B. Ende des Mittelalters), sei es im Beginn der Wiederherstellung neuer Au-
torität (z.B. Reformation und Gegenreformation): Specifische, begrenzte, aber schöp-
ferische Blüten (wie z.B. chinesische Landschaftsmalerei und Lyrik), Zeitalter eines um-
fassenden geistigen Schöpfertums (z.B. Deutschland 1760-1830).
Der Geist hat eine Tendenz, in ruhigen Zeiten geordneter Zustände innerhalb all-
gemeinen Wohlstands eine Weise des Geniessens zu werden. Vor dem Ende eines Kul-
turzeitalters tritt Bildung an die Stelle des Ursprünglichen, das aesthetisch Unverbind-
liche an [die] Stelle des Existentiellen.
In allen Reichen ist eine selbstverständliche Voraussetzung des Urteilens, es solle
eine und nur eine Herrschaft sein. Unter dieser Forderung wird alle Gegnerschaft nie-
dergeschlagen, bis einer die ausschliessliche Gewalt in dem zugänglichen Erdraum (or-
bis terrarum der Römer, Reich der Mitte in China) hat. Aber diese Voraussetzung ist
fragwürdig. Zum Beispiel: Gerade dass nicht eine Herrschaft, sondern Staat und Kir-
che in Polarität und Concurrenz standen, beide mit totalem Anspruch, der nur jeweils
aus Notwendigkeiten des Compromisses aufgegeben wurde, hat durch die ständige
geistige und politische Spannung dem Abendlande seine hohe geistige Energie, seine
Freiheit, sein unermüdliches Suchen, Entdecken, die Weite seiner Erfahrung gebracht,
im Unterschied von der Einheit und Spannungslosigkeit aller orientalischen Imperien,
von Ägypten und Babylonien bis zu den Persern, von Byzanz bis China.185 Aber kann
man auf Grund solcher Einsicht die Spaltung und Zweiherrschaft wollen und absicht-
lich herstellen? Wohl kaum. Denn es gibt eine Grenze des zu Wollenden, weil niemand
über allem, sondern immer darin steht, auch wenn die Spannung in ihm selber liegt.
Wenn er kämpft, steht er an seiner Stelle und kann als Kämpfender nur seine Sache
und nicht alles zugleich wollen. Aber als Mensch vor Gott kann er sein Bewusstsein
 
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