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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0244
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Grundsätze des Philosophierens

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wusst geworden. Eine unerhörte Unruhe bemächtigte sich des Menschen. Die Welt
schien für das Bewusstsein immer verwirrter zu werden.
Am Ende erfolgte der Collaps. Grosse politische und geistige Einheitsbildungen,
dogmatische Gestaltungen beherrschten seit etwa 200 v.Chr. das Feld. Die Achsenzeit
endet mit grossen Staatsbildungen, welche die Einheit gewaltsam verwirklichen (Chi-
nesisches Einheitsreich des Tsin-Shi-Huang-Ti,183 Maurya-Dynastie in Indien,184 römi-
sches Reich). Diese grossen Umwälzungen von der Vielheit der Staatsgebilde zu Uni-
versalreichen geschehen in den drei Bereichen wiederum merkwürdig gleichzeitig. Der
freie Kampf der Geister scheint still zu stehen. Ein Bewusstseinsverlust ohne gleichen
ist die Folge. Nur wenige, passende Gedankenmöglichkeiten und geistige Gestalten
aus der vergangenen Achsenzeit werden ergriffen, um den neuen umfassenden Staats-
autoritäten geistige Gemeinschaft, Glanz und Convention zu geben. Der imperiale Ge-
danke verwirklicht sich in religiös begründeten Formen. Es entstehen geistig stabile,
langwährende Zeiten der grossen Reiche mit Nivellierung zu Massenkultur und mit
sublimer, aber unfreier Geistigkeit conservativer Aristokratien. Es ist[,] als ob durch
Jahrhunderte ein Schlaf der Welt begänne, mit absoluter Autorität der grossen Systeme
und Einsargungen.
Die Universalreiche sind Grossreiche. Grossreiche sind für die überwiegende Mehr-
zahl der Völker Fremdherrschaften, im Unterschied von griechischen Poleis, von be-
grenzten, sich selbst regierenden Stammes- und Volksgemeinschaften. Eigenherr-
schaft heisst aktive Teilnahme am politischen Denken und Handeln. Diese ist eine
Folge der immer aristokratischen Form der Demokratie, wie sie in Athen, Rom, Eng-
land, in Island, in den Städten der Renaissance in verschiedener Gestalt da gewesen
ist. Immer verschwindet sie mit dem Übergang zur gleichmachenden Demokratie und
zu Grossreichen (so in Athen mit dem Tode des Perikies, in Rom mit dem Übergang
zum Caesarismus, in England mit dem Übergang zum allgemeinen gleichen Wahl-
recht). Wo die Teilnahme am politischen Handeln fehlt zugunsten blossen Gehorsams
und Untertanenschaft[,] ist für das Bewusstsein des Einzelnen alle Herrschaft an sich
Fremdherrschaft, äusser wenn der seelische Typus der Herrschenden als der eigene
empfunden und wiedererkannt wird, was immer nur für einen beschränkten Teil der
Volksmasse Realität ist.
Mit der Verwandlung der Zustände in Grossreichen geht daher zugleich eine tiefe
Verwandlung des Menschen einher. Politische Ohnmacht ändert Bewusstsein und Le-
ben. Die despotische Gewalt, die vom Grossreich unabtrennbar scheint, wirft den Ein-
zelnen auf sich selbst zurück, isoliert ihn, nivelliert ihn. Wo keine wirkliche Mitver-
antwortung und kein freier Einsatz für das Ganze möglich ist, da sind alle Sklaven. Dies
Sklaventum wird verschleiert durch Redewendungen und Scheinveranstaltungen aus
der Vergangenheit. Nie ist so viel von griechischer Freiheit geredet worden, ist sie im-
mer wieder garantiert worden, als wie sie endgültig zugunsten imperialer Regime zer-
 
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