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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0496
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Grundsätze des Philosophierens

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Forderung der Unterwerfung unter etwas Faktisches in der Welt, das sich ausgibt als
Stimme Gottes, Wort Gottes, Gesetz Gottes, Stellvertreter Gottes. Aber es ist in der Welt
nie dieses, sondern bestimmte menschliche Realität. Daher denn auch das Eifern und
das Unsaubere. Dagegen steht die Reinheit und Unpathetik, das Unpropagandistische
und Weltüberlegene in Sokrates, und in der Idee der echten Philosophie bei Kant.
Der Vorwurf der Eigenmächtigkeit ist zurückzugeben. Es ist im Christusglauben
eine uneingeschränkte Eigenmächtigkeit, die sich rechtfertigt, indem sie sich auf ver-
meintlich ausschliessliche Gottesoffenbarung beruft. Es ist aber jederzeit ein Irrtum,
sich zur objektiven Rechtfertigung eigenen Tuns auf Gott zu berufen. Was nur zwi-
schen dem einzelnen Menschen und Gott gilt, und in der Zeit auch immer noch mehr-
deutig bleibt, was daher im Wagnis des Einzelnen seine Wirklichkeit hat, das kann
nicht in eindeutiger Fixierung eine Objektivität für alle, nicht Grund und Recht in
Auseinandersetzung mit anderen werden.
Die sich selbst nicht durchschauende Eigenmächtigkeit, welche sich verschleiert
in der Berufung auf Gott, muss die ursprüngliche Beziehung auf Gott, das Suchen von
Gottes Stimme, die Gewissheit des so Sollens verwerfen als Eigenmächtigkeit, wenn
nicht Menschen in der Welt (durch Amt und Institution) das Sollen bestätigen.
Ein besonderer Akt der Eigenmächtigkeit ist für den Christen der Selbstmord. Was
in den Erörterungen des Selbstmords in der griechischen Philosophie gedacht wurde:
der Mensch dürfe nicht eigenmächtig den Posten verlassen, auf den Gott ihn gestellt
habe, das wird vom Christen absolut genommen: in jedem Falle, ohne Ausnahme,
habe Gott den Selbstmord verboten. Anstatt für die Rätsel der Grenze offen zu bleiben,
anstatt für die Geschichtlichkeit des Einmaligen bereit zu sein, weiss der Christ auf
mitteilbare Weise allgemein, was Gott will. Er weiss es rational, gesetzesgehorsam3, be-
fangen in fixierten Gedanken einer vermeintlich gekannten Weltordnung. Dass Selbst-
mord auf Irrtum, Eigenmacht, Gottferne beruhen könne, bedeutet ihm, dass jeder
Selbstmord so aufzufassen sei. Er verhält sich, als ob er wüsste, dass jeder Mensch auf
einen Posten gestellt sei und noch eine Aufgabe habe, und dass jeder Mensch ein Be-
wusstsein von solchem Posten mit seiner Aufgabe haben könne und müsse, und er ver-
gisst, dass es Grenzsituationen als Ausnahme Situationen gibt, in denen dem Menschen
sein Weiterleben als Schuld erscheinen kann. Dann soll er sichb durch seinen freien
Tod bewähren. Durch diese letzte ihm bleibende Freiheit darf er im Verzicht auf Da-
sein Schuld und Verfall seines Wesens verwehren, in dem Bewusstsein, durch seinen
freiwilligen Tod Gott gehorsam zu sein und gleichsam zu Gott zurückzukehren.415

a nach gesetzesgehorsam im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. - »du sollst nicht töten« -
b nach sich im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. vielleicht
 
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