218 Die Geburt der Tragödie
Cultus der Tragödie, theils in den geheimen Begehungen dramatischer Mysterien-
feste, aber immer unter der alten mythischen Hülle aus.] Emphatisch allegorisie-
rende Verstärkung der vorausgehenden Behauptung, daß „die olympische Cul-
tur von einer noch tieferen Weltbetrachtung besiegt worden ist“ (73, 13-15).
Diese vermeintlich „tiefere Weltbetrachtung“ wird hier im Sinne von N.s
archaisierender Tragödien-Auffassung zuerst als „Philosophie der wilden und
nackten Natur“ entmythisiert und dann sogleich durch Personifikation remy-
thisiert, wenn es heißt, daß diese „Philosophie“ - in Wirklichkeit diejenige
Schopenhauers, die den Schein der (hier: homerischen) „Vorstellungen“ auf
das einzig wahre Sein des „Willens“ hin durchdringt - mit „der unverhüllten
Miene der Wahrheit“ die „vorübertanzenden Mythen der homerischen Welt“
anschaut. Im folgenden, für N.s gesamte Methode aufschlußreichen Satz über-
nimmt er genau das Verfahren, das er kurz darauf selbst scharf kritisiert, näm-
lich das Verfahren, „unter den strengen, verstandesmässigen Augen eines
rechtgläubigen Dogmatismus“ (74,12 f.) die Mythen zu erklären. Dieser Dogma-
tismus einer sich auf unbezweifelbare „Erkenntnisse“ (73, 28) berufenden
„Wahrheit“ führt bei ihm selbst dazu, daß die „dionysische Wahrheit“ „das
gesammte Bereich des Mythus als Symbolik ihrer Erkenntnisse“ geradezu
„übernimmt“. Dies ist das Verfahren, das Georg Friedrich Creuzer in seiner
Symbolik und Mythologie weitgehend anwandte, wenn auch noch ohne dogma-
tischen Anspruch auf „Wahrheit“, wie sie N. als rechtgläubiger Anhänger Scho-
penhauers beansprucht.
Daß die „dionysische Wahrheit“ ihre „Erkenntnisse“ nicht nur im „öffentli-
chen Cultus der Tragödie“, d. h. bei den Großen Dionysien in Athen, sondern
auch „in den geheimen Begehungen dramatischer Mysterienfeste“ ausspricht,
deutet auf die dionysischen Mysterien hin. Ihr erster Hauptort war Eleusis, wo
sie sich mit den Demeter-Mysterien verbanden. „Dramatisch“ nennt N. diese
Mysterienfeste, weil sie sich in Weihe-Handlungen ausdrückten. Der ganze Pas-
sus bezieht sich zwar primär auf den Dionysoskult der Griechen, zugleich aber
ist damit auch schon Wagner mitgemeint, dessen Werke - in N.s Verständnis
als „Wiedergeburt der Tragödie“ - öffentlich und zugleich mit der Aura myste-
rienhafter Weihe-Handlungen inszeniert wurden. Diesen Mysterien- und
Weihe-Charakter betont N. im ersten Kapitel seiner Schrift Richard Wagner in
Bayreuth, wo er zwei Hauptelemente des Mysterienwesens auf die ins Kultische
erhobene Bayreuth-Erfahrung bezieht: Schweigen und Reinigung. „Wer
bedürfte nicht des reinigenden Wassers, wer hörte nicht die Stimme, die ihn
mahnt: Schweigen und Reinsein! Schweigen und Reinsein! Nur als Denen, wel-
che auf diese Stimme hören, wird uns auch der grosse Blick zu Theil, mit dem
wir auf das Ereigniss von Bayreuth hinzusehn haben“ (KSA 1, 434, 10-15).
73, 31-33 Welche Kraft war dies, die den Prometheus von seinen Geiern befreite
und den Mythus zum Vehikel dionysischer Weisheit umwandelte? Dies ist die
Cultus der Tragödie, theils in den geheimen Begehungen dramatischer Mysterien-
feste, aber immer unter der alten mythischen Hülle aus.] Emphatisch allegorisie-
rende Verstärkung der vorausgehenden Behauptung, daß „die olympische Cul-
tur von einer noch tieferen Weltbetrachtung besiegt worden ist“ (73, 13-15).
Diese vermeintlich „tiefere Weltbetrachtung“ wird hier im Sinne von N.s
archaisierender Tragödien-Auffassung zuerst als „Philosophie der wilden und
nackten Natur“ entmythisiert und dann sogleich durch Personifikation remy-
thisiert, wenn es heißt, daß diese „Philosophie“ - in Wirklichkeit diejenige
Schopenhauers, die den Schein der (hier: homerischen) „Vorstellungen“ auf
das einzig wahre Sein des „Willens“ hin durchdringt - mit „der unverhüllten
Miene der Wahrheit“ die „vorübertanzenden Mythen der homerischen Welt“
anschaut. Im folgenden, für N.s gesamte Methode aufschlußreichen Satz über-
nimmt er genau das Verfahren, das er kurz darauf selbst scharf kritisiert, näm-
lich das Verfahren, „unter den strengen, verstandesmässigen Augen eines
rechtgläubigen Dogmatismus“ (74,12 f.) die Mythen zu erklären. Dieser Dogma-
tismus einer sich auf unbezweifelbare „Erkenntnisse“ (73, 28) berufenden
„Wahrheit“ führt bei ihm selbst dazu, daß die „dionysische Wahrheit“ „das
gesammte Bereich des Mythus als Symbolik ihrer Erkenntnisse“ geradezu
„übernimmt“. Dies ist das Verfahren, das Georg Friedrich Creuzer in seiner
Symbolik und Mythologie weitgehend anwandte, wenn auch noch ohne dogma-
tischen Anspruch auf „Wahrheit“, wie sie N. als rechtgläubiger Anhänger Scho-
penhauers beansprucht.
Daß die „dionysische Wahrheit“ ihre „Erkenntnisse“ nicht nur im „öffentli-
chen Cultus der Tragödie“, d. h. bei den Großen Dionysien in Athen, sondern
auch „in den geheimen Begehungen dramatischer Mysterienfeste“ ausspricht,
deutet auf die dionysischen Mysterien hin. Ihr erster Hauptort war Eleusis, wo
sie sich mit den Demeter-Mysterien verbanden. „Dramatisch“ nennt N. diese
Mysterienfeste, weil sie sich in Weihe-Handlungen ausdrückten. Der ganze Pas-
sus bezieht sich zwar primär auf den Dionysoskult der Griechen, zugleich aber
ist damit auch schon Wagner mitgemeint, dessen Werke - in N.s Verständnis
als „Wiedergeburt der Tragödie“ - öffentlich und zugleich mit der Aura myste-
rienhafter Weihe-Handlungen inszeniert wurden. Diesen Mysterien- und
Weihe-Charakter betont N. im ersten Kapitel seiner Schrift Richard Wagner in
Bayreuth, wo er zwei Hauptelemente des Mysterienwesens auf die ins Kultische
erhobene Bayreuth-Erfahrung bezieht: Schweigen und Reinigung. „Wer
bedürfte nicht des reinigenden Wassers, wer hörte nicht die Stimme, die ihn
mahnt: Schweigen und Reinsein! Schweigen und Reinsein! Nur als Denen, wel-
che auf diese Stimme hören, wird uns auch der grosse Blick zu Theil, mit dem
wir auf das Ereigniss von Bayreuth hinzusehn haben“ (KSA 1, 434, 10-15).
73, 31-33 Welche Kraft war dies, die den Prometheus von seinen Geiern befreite
und den Mythus zum Vehikel dionysischer Weisheit umwandelte? Dies ist die